edition March-April 2022

Die Lücke – ein Raum zur Entfaltung

Mit einem diversen Ensemble aus hörenden und gehörlosen Performer*innen verschiedener Kulturen suchen Vanessa Huber und die tanzApartment cie. in ihrer Bühnenproduktion „talk to me!“ die sich öffnenden Risse und Spalten in der Kommunikation zwischen verschiedenen Sinnen, Sprachen und Kulturen zu überwinden.

Vanessa Huber / tanzApartment "talk to me!" © Magda Myjak © Magda Myjak

Text: Vanessa Huber
Choreografin

Stille. Wie fange ich diesen Text an? Worte. Lücke. Verflüchtigt. Die Hände an der Tastatur. Sie finden nicht die richtigen Buchstaben. Die Hände im Raum. Sie können nicht die richtigen Gebärden. Ich stehe Dazwischen. Zwischen hörender und gehörloser Welt, zwischen den Kulturen, zwischen den Sprachen, zwischen Erinnerungen. Stop. Tür zu.

Ich gehe zu Jorinna Illi, sie ist Kommunikationsassistentin für Gebärdensprache und heute meine Stimme, um mit dem gehörlosen Tänzer Dodzi Dougban und der gehörlosen Schauspielerin Bettina Kokoschka bei den Proben zu kommunizieren. Die einzelnen Gebärden, die ich gelernt habe, reichen nicht aus, um komplexe Gedankengänge zu beschreiben. Natürlich kann eine Kommunikation zwischen uns über Körpersprache stattfinden. Aber um Inhalte auszutauschen, funktioniert unsere Kommunikation nur im Dreieck. Worte sind nur indirekt möglich und brauchen beständig eine Übersetzung; meine verbal, ihre visuell, Jorinnas Stimme im Raum.

Tür auf. Wir gehen alle gemeinsam durch eine der drei Türen des Bühnenbilds, die in den hinteren Bühnenraum führt, der nur durch zwei Fenster einsehbar ist. Wir suchen den richtigen Rhythmus. Ich lege Zeige- und Mittelfinger auf meine Pulsader und klopfe darauf. Ein Versuch, um meinen gesprochen Worten ein visuelles Gesicht zu geben. Rhythmus. Am liebsten würde ich die Kommunikation jetzt direkt übernehmen. Aber ich bleibe in der Lücke. Beschreibe. Jorinna übersetzt mit ihren Händen. Dodzi antwortet. Ich höre ihre Stimme für ihn. Sehe seine Hände.

Die anderen Tänzer*innen, Helena Fernandino, Medhat Aldaabal, Katja Scholz sowie der Musiker Lorenz Huber, kommen dazu. Für dieses Tanzstück habe ich mich entschieden, mit einem möglichst diversen Ensemble zu arbeiten. Divers heißt bei uns, dass sowohl hörende als auch gehörlose Performer*innen auf der Bühne stehen – aber auch Menschen aus ganz verschiedenen Kulturen, deren Weg nach Berlin sehr unterschiedlich war. Der Unterschied, die Lücke in uns und zwischen uns, ist unser Thema – und im Verlauf der Proben beobachten wir unsere Kommunikation, unsere Art die Welt zu sehen, unsere Perspektive auf Sprache und Wirklichkeit.

Heute ordnen wir eine Szene neu, in der Kommunikation immer wieder abreißt. Rein und raus. Begegnungen zwischen den Sprachen. Ich betrachte. Körper im Raum. Bewegungen verflüchtigen sich wie Worte. Gedanken fliegen durch meinen Kopf. Ich erinnere mich an das Gespräch heute Morgen mit Helena, das eine ganz andere Lücke aufgreift. Es ging um das portugiesische Wort „saudade“, für das es keine treffende deutsche Übersetzung gibt. Etwas wie Sehnsucht oder Weltschmerz. Eine Gewissheit, etwas Wertvolles unwiderruflich verloren zu haben. Die Übersetzung bleibt in der Lücke. Im Gefühl von „saudade“, zwischen den Worten und den Sprachen, suchen wir einen Faden. Und der Faden wird nicht rot. Er bekommt neue Farben. Er bricht ab. Verfärbt, verfädelt, verwebt, entwirrt, wird zerschnitten, zerrissen, neu geordnet, anders betrachtet. Tür zu. Lücke. Kommunikation, die nicht ausreicht. Sprache, die nicht ausreicht. Nicht einmal die Sprache, die wir fließend sprechen, findet passende Worte, weil manche Situationen sprachlos machen.

Unsere Probenarbeit mit der Lücke, zu den Momenten, in denen Kommunikation in unserem Leben täglich scheitert, triggert mich. Die Lücke wird politisch. Es erschüttert mich, dass Schauspieler*innen wie Bettina nicht selbstverständlich bei Bedarf mit Kommunikationsassistenzen unterstützt werden. Es macht mich rasend, wenn ich mich mit den rassistischen Sprüchen „besorgter Bürger“ auseinandersetze, die Menschen wie Medhat mitten in Berlin erleben.

In meiner Sprachlosigkeit wende ich mich nach der Pause gemeinsam mit Helena dem Kommunikationsassistenten von Apple zu und wir fragen Siri nach dem Sinn des Lebens: „Das kommt darauf an, wen du fragst. Aristoteles würde ‚glücklich sein‘ sagen. Das Krümelmonster würde ‚Kekse‘ sagen. Beide haben nicht ganz unrecht.“

Während Katja Gebärden eines Gedichts, die sie von Bettina gelernt hat, in Tanzbewegungen transformiert, Lorenz und Dodzi gemeinsam mit Atem am Mikrofon experimentieren, Medhat einen Text über Gerüche in Syrien schreibt und Helena weiter mit Siri redet, trete ich ein Stück zurück, zwischen die Grenzen. Tür auf. Es kostet mich selbst immer wieder Kraft, in die Lücke zu gehen, die Lücke wirken zu lassen, sie verstehen zu wollen, weil es dort anders ist, weil wir dort keine Sicherheit haben. Ich wünschte mir diese Lücke als einen Raum zur Entfaltung, einen Platz, um Brücken zu anderen Realitäten zu bauen. Die Lücke als Chance.

Vanessa Huber
talk to me!
10. – 13. März 2022
HALLE Tanzbühne Berlin
www.tanzapartment.de

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