Zusammen:Zukunft
Am Runden Tisch Tanz sind Empfehlungen für die Weiterentwicklung der Kunstsparte Tanz in Berlin entstanden.
"Die Koalition wird den Tanz in Berlin stärken und die Tanzförderung in den kommenden Jahren strukturell in allen Fördersäulen ausbauen", schrieb sich die Berliner Regierung aus SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen 2016 in ihren Koalitionsvertrag. Konkret angepackt hat die Kulturpolitik das Vorhaben gemeinsam mit den Tanzschaffenden: Der Runde Tisch Tanz, ein modellhafter, partizipativ
gestalteter Prozess zwischen Kulturpolitik, Verwaltung und Tanzszene, hat im vergangenen Jahr eine Gesamtstrategie für den Berliner Tanz entwickelt. Im Februar 2019 ist der Abschlussbericht erschienen. Ausschnitthaft dokumentiert tanzraumberlin hier die zentralen Forderungen und die wichtigsten Empfehlungen des Runden Tisches Tanz für die Weiterentwicklung der Kunstsparte Tanz in Berlin.
Karin Kirchhoff und Elisabeth Nehring
Tanzstadt Berlin 2018 – der Status Quo
Im Jahr 2018, in dem der Runde Tisch Tanz stattfand, reihte sich in Berlin ein Jubiläum an das nächste: 40 Jahre Tanzfabrik Berlin, 30 Jahre Tanz im August, 30 Jahre Hebbel-Theater Berlin GmbH, 25 Jahre Sasha Waltz & Guests, 15 Jahre HALLE Tanzbühne Berlin – viele Zeichen dafür, dass Tanz in Berlin blüht und gedeiht – einerseits.
Andererseits: Hätte nicht eine junge Choreografin mit dem Talent einer Sasha Waltz heute eine noch schwierigere Ausgangsbasis für ihre Karriere? Wo fände ein junges Kollektiv – in Analogie zur Tanzfabrik in den 1970ern – heute leer stehende Arbeitsräume angesichts einer durchkapitalisierten Stadt? (…) Das Leben in Berlin ist teurer geworden, ein Großteil der Freiräume verschwunden, der Konkurrenzkampf härter. (…)
Tanzstadt Berlin – die Stärken
Dynamisch, divers, dezentral, hochproduktiv erscheint der Tanz in Berlin heute, in ständiger Entwicklung und von einem hohen Maß an unternehmerischen Innovationskräften geprägt. In den vergangenen 20 Jahren hat sich eine große, vielfältige, äußerst internationale Szene mit vielen Initiativen und Aktivitäten entwickelt, in der sich ‚alteingesessene’ und gerade in der Stadt angekommene Tänzer*innen und Choreograf*innen begegnen und gegenseitig inspirieren. Derzeit arbeiten mehr als 2.400 Tanzschaffende in der Stadt; etwa die Hälfte davon ist internationaler Herkunft. (…)
Neben dem BA Bühnentanz an der Staatlichen Ballettschule stellen drei Hochschulstudiengänge und mehrere professionelle Berufs- und Weiterbildungsangebote insgesamt circa 150 Ausbildungsplätze pro Jahr im Bereich zeitgenössischer Tanz. Viele der Absolvent*innen wünschen sich, in Berlin zu bleiben.
Über 1.700 Vorstellungen pro Jahr in den verschiedenen Aufführungsorten sowie größere und kleinere Festivals finden alle ihre jeweiligen Publikumskreise. Das Zuschauerpotenzial für den Tanz wächst immens, Tendenz jährlich steigend. (…) Und an den vielfältigen Tanzvermittlungsangeboten partizipieren wöchentlich Hunderte von Tanzinteressierten und -begeisterten und beweisen mit ihrem Engagement die integrative Kraft des Tanzes.
Tanzstadt Berlin – die Defizite
Doch die Zahlen der "Bestands- und Bedarfsanalyse Tanz in Berlin" von Cilgia Gadola und Manuel Wisniewski sprechen auch eine andere Sprache: So geben 60 Prozent der befragten Tanzschaffenden ein Jahreseinkommen von unter 15.000 Euro an. Gerade viele junge Tänzer*innen und Choreograf*innen leben an bzw. unter dem Existenzminimum. Grundsätzlich unterliegen Tanzkünstler*innen auch in Berlin einem immensen Produktionsdruck und einer der Kreativität wenig zuträglichen Verwertungslogik.
Die vielen Hundert Tanzschaffenden konkurrieren untereinander um Fördermittel, wobei auf der Ebene der Einstiegs- und Projektförderung, das heißt der geringer dotierten Förderprojekte, in den Jahren 2015-17 von einem akzeptablen Anteil an öffentlicher Förderung für die freie Tanzszene gesprochen werden kann. Aber erst seit 2018 haben auch die Höhen der Fördersummen ein annehmbares Niveau erreicht. Dagegen sind im Bereich der überjährigen Förderung (vor allem Basis- und Konzeptförderung) die Tanzschaffenden im Vergleich zu den anderen performativen Künsten immer noch stark unterrepräsentiert.
Die Folge ist, wie bereits in den 1990er Jahren, dass auch heute noch insbesondere erfolgreiche und langjährig arbeitende Choreograf*innen (die sogenannten Mid-Career-Künstler*innen) durch die Struktur und Begrenzungen des Berliner Fördersystems in einer kontinuierlichen künstlerischen Entwicklung erheblich gehemmt oder eingeschränkt werden. (…) Fast gänzlich und seit vielen Jahren fehlen für zu viele Mid-Career-Choreograf*innen finanzielle und räumliche Möglichkeiten, ihre künstlerische Arbeit kontinuierlich und nachhaltig zu gestalten, größere (Ensemble-)Stücke in Berlin zu produzieren und durch längere Produktionszeiträume neue, innovative Formen des eigenen Kunstschaffens zu entwickeln. (…)
Die Existenz bestehender Orte (wie des Studio laborgras, der Wiesenburg oder des VERLIN) ist von der die Stadt belastenden Gentrifizierung bedroht. Bezahlbare Proberäume und größere Bühnen für Tanz sind akute Mangelware. Die existierenden Tanzorte sind sämtlich mit dem entsprechenden Haftungsrisiko privatwirtschaftlich gegründet und betrieben und werden alle nur temporär und zu gering gefördert.
Last but not least: Auch nach 30 Jahren Diskussion existiert in Berlin noch immer kein institutionell gefördertes Haus ausschließlich für Tanz und Choreografie, das gebündelter Ausdruck der Stärke der Kunstform Tanz sowie des Potenzials der Berliner Tanzszene ist. Zudem ist kein bestehender Ort für Tanz und Choreografie finanziell einem Stadttheater vergleichbar ausgestattet. (…)
Die Empfehlungen für den Weg zur TanzHAUPTstadt Berlin 2025
Vor dem Hintergrund des großen, in weiten Teilen aber aus den benannten Gründen ungenutzten Potenzials der Berliner Tanzszene wurden am Runden Tisch Tanz Empfehlungen erarbeitet, um Berlin von der Tanzstadt 2018 zur TanzHAUPTstadt 2025 zu entwickeln. Die im Folgenden aufgeführten Maßnahmen ergänzen einander und entfalten erst in der strategischen Verzahnung über alle Bereiche des Tanzschaffens hinweg ihre volle Wirkung. (…)
Drei Bereiche lassen sich prioritär benennen, in denen der Nachhol- und Handlungsbedarf am dringendsten und die zu erwartende strukturelle Nachhaltigkeit für die Kunstgattung Tanz am größten ist: die Einrichtung eines Hauses für Tanz und Choreografie, die Stärkung der vorhandenen Tanzorte und die Verbesserung der Künstler*innenförderung.
Das Haus für Tanz und Choreografie schließt eine vorhandene institutionelle Lücke. Neben Präsentation und Produktion werden mehrere zusätzliche Funktionen mit diesem Haus verknüpft, die die vorhandene Tanzinfrastruktur erweitern und die Kunstgattung Tanz in Berlin auf eine andere Bedeutungsstufe heben können (Publikumszuwachs, Sichtbarkeit in der Stadtgesellschaft, internationaler Austausch, Vermittlung, Archiv). Für die Konzipierung und den Aufbau einer solchen Institution ist Projektentwicklungs- und Vorbereitungszeit nötig, ein Zeitrahmen bis 2025 wird vorsichtig optimistisch als möglich erachtet, wenn bereits 2019 ein Team zur Projektentwicklung seine Arbeit aufnimmt.
Bis 2025 gilt es, die vorhandenen Orte strukturell zu stärken und für die Tanzkünstler*innen verbesserte Arbeitsbedingungen zu schaffen, damit sich die gesamte Szene und damit Berlin von einer Tanzstadt 2018 zu einer TanzHAUPTstadt 2025 entwickeln kann. Dafür wurden neue Programme erarbeitet, insbesondere ein Residenzförderprogramm und ein Stipendium für Tanz und Choreografie. Flankierend ist die deutliche finanzielle Aufstockung vorhandener Förderprogramme notwendig: der Konzept- und der Produktionsortförderung für die vorhandenen Orte sowie der Basisförderung und der Arbeits- und Recherchestipendien für die Künstler*innen. Diese Maßnahmen lassen sich bereits im Doppelhaushalt 2020/21 umsetzen.
Ziele sind die Nachhaltigkeit künstlerischen Arbeitens (und damit auch der investierten Steuergelder), die Sicherung und Erweiterung von vorhandenen Strukturen angesichts sich verändernder wirtschaftlicher Bedingungen sowie der Gewinn, der für die Stadtgesellschaft aus einer florierenden, gesellschaftlich engagierten und vielfältig zugänglichen Kunstform Tanz erwächst.
Die Bedarfe sind erkannt und benannt, die kurz-, mittel- und langfristigen Maßnahmen aufgelistet, mit der Umsetzung kann umgehend begonnen werden.
Das Ziel – TanzHAUPTstadt Berlin 2025
TanzHAUPTstadt 2025 – was bedeutet das? 2025 existiert in der TanzHAUPTstadt Berlin eine vitale, vielfältige und international renommierte Tanzszene, die sich durch die beständige Entwicklung neuer künstlerischer Arbeitsweisen, Ästhetiken und Formate auszeichnet. Die Kunstgattung Tanz hat einen vergleichbaren Stellenwert und die gleiche öffentliche Sichtbarkeit wie das Theater, die Musik oder die bildende Kunst. Wie bereits seit vielen Jahren sind die Tanzschaffenden auf der Höhe oder Vorreiter des gesellschaftlichen Diskurses – sowohl bezüglich der Themen als auch der Arbeitsformen.
Viele unterschiedliche Publikumskreise werden durch Vielfalt und Relevanz der Arbeiten angesprochen und besuchen Veranstaltungen in prosperierenden Tanzorten von Charlottenburg (Staatsballett Berlin an der Deutschen Oper) bis Köpenick (Lake Studios) und von Pankow (EDEN*) bis Steglitz (TanzTangente).
Die existierenden Produktions- und Spielorte können durch stabile Strukturen, mehr Personal und höhere Finanzmittel nicht nur die Künstler*innen in der Entwicklung ihrer Arbeit besser unterstützen, sondern auch durch aufgestockte Programmrealisierungen, Vermittlungsformate und Öffentlichkeitsarbeit verstärkt weitere Publikumsgruppen generieren.
Die Mehrheit der ansässigen Tanzkünstler*innen muss das Einkommen nicht länger durch Kellnern und Pilateskurse sichern, sondern kann von der eigenen künstlerischen Arbeit leben. Hiesige Künstler*innen haben Zugang zu Räumen und Finanzmitteln, die ihnen erlauben, ihre künstlerische Handschrift kontinuierlich weiterzuentwickeln, auch unabhängig vom Produktionszwang der Projektförderung. Diversität ist dabei auf, vor und hinter der Bühne eine Selbstverständlichkeit.
Gestützt durch professionelle Distributionsmanager*innen hat sich die Touringtätigkeit von in Berlin entstandenen Tanzproduktionen deutlich verstärkt. So wird die Nachhaltigkeit der Arbeit erheblich gesteigert sowie der nationale und internationale Ruf als TanzHAUPTstadt gefestigt; zudem fließen zusätzliche Mittel durch Gastspieleinnahmen und Koproduktionen in die Folgeprojekte. Namhafte internationale Gruppen und Choreograf*innen präsentieren häufiger große wie kleinere Arbeiten in Berlin, kommen temporär für Residenzen sowie für Kooperations- und Austauschprojekte mit Berliner Tanzschaffenden an hiesige Orte.
Ein neuer Ort für Tanz und Choreografie ergänzt und stärkt die bestehende Szene um die Möglichkeiten einer größeren Bühne speziell für den Tanz. Das Haus für Tanz und Choreografie vereint Proben und Produktion, Recherche und Forschung, Archivierung und Vermittlung, Diskurs und Theorie, Präsentation und Partizipation unter einem Dach, strahlt international aus und bietet Berliner und auswärtigen Choreograf*innen exzellente Arbeitsbedingungen.
Runder Tisch Tanz
Abschlussbericht – Die wichtigsten Empfehlungen
Haus für Tanz und Choreografie
- Konzeptausarbeitung, Gründung und Aufbau
- mit einem öffentlich zugänglichen und benutzerfreundlichen analogen und digitalen Tanzarchiv,
- mit einem Tanzvermittlungszentrum.
Bestehende Räume und Orte
- Anhebung der Fördermittel Produktionsort- und Konzeptförderung,
- Sicherung und Ausbau bestehender Tanzorte,
- Einrichtung eines Residenzförderprogramms.
Künstlerinnenförderung
- Anhebung der Künstler*innenförderung, insbesondere Basisförderung und Recherchestipendien,
- Pilotprojekt Stipendium für Tanz und Choreografie zur Erweiterung des bestehenden Förderportfolios.
Diversität
- neue Künstler*innenförderung für bisher benachteiligte Künstler*innen: IMPACT-Förderung für Ganzhabe,
- Diversitätskompetenz in allen Jurys.
Internationalität und Touring
- neues Förderinstrument Distributionsfonds,
- Anhebung der Fördermittel für Reisezuschüsse zu Auslandsvorhaben.
Künstlerische Forschung
- neues Förderprogramm für künstlerische Forschung.
Auszüge aus: "Abschlussbericht Runder Tisch Tanz Berlin" von Karin Kirchhoff und Dr. Elisabeth Nehring, im Auftrag der Senatsverwaltung für Kultur und Europa, Träger: Zeitgenössischer Tanz Berlin e.V. Der Bericht ist online veröffentlicht unter https://www.berlin.de/sen/kultur/foerderung/foerderprogramme/darstellende-kuenste-tanz/