edition September/October 2020

Willensstark im Wanken der Welt

Wie verändert sich ein auf Hochleistung getrimmter Körper, wenn er plötzlich aus seinen Trainingsroutinen katapultiert und auf kleinsten Raum beschränkt wird? Wie entfaltet sich Kreativität unter Lockdown-Bedingungen? Johanna Withelm hat beim Staatsballett Berlin nachgefragt.

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Choreograf*innen von "LAB_WORKS COVID-19" und Ensemblemitglieder des Staatsballett Berlin (von links nach rechts): Arshak Ghalumyan, Vivian Koohnavard, Johnny McMillan, Tara Samaya, Dana Pajarillaga, Olaf Kollmannsperger, Alexander Abdukarimov und Ross Martinson. © Yan Revazov

Ende August startete das Staatsballett ­Berlin in die neue Spielzeit. Anders als geplant, versteht sich: Eingeschränkt ist das Programm, Gastspiele wie Pina Bauschs „Nelken“ vom Tanz­theater Wuppertal wurden abgesagt, große Premieren wie Marcia Haydées „Dornröschen“ noch einmal verschoben. Doch Tanz muss sein. Auf den Opernbühnen präsentiert sich Berlins Ballett­ensemble, nach langen Monaten, mit zwei Galas und der Premiere der von Tänzer*innen choreografierten „LAB_WORKS COVID_19“. Hygienekonform und vor weniger Publikum. Auch intern wirkt der Corona-Lockdown fort: Das Training und die Proben finden noch nicht wieder auf dem vor der Pandemie normalen Niveau statt, Routinen müssen neu gefunden werden. Johanna Withelm war für tanzraumberlin vor Ort: Wie haben die Tänzer*innen des Staatsballett Berlin den Lockdown erlebt? Und wie haben sie ihn nicht nur überstanden, sondern kreativ genutzt?

Johanna Withelm
Tanzwissenschaftlerin, Dramaturgin, Produktionsleiterin

„Am 11. März habe ich meine letzte Vorstellung getanzt, das war vor fünf Monaten. So eine lange Bühnenpause habe ich in meiner gesamten bisherigen Karriere noch nicht erlebt“, erzählt Alexander Abdukarimov, Tänzer des Staatsballett Berlin, an einem warmen Tag im August kurz nach der vierwöchigen Sommerpause des Ensembles. Er fügt hinzu: „Die Vorstellungen sind eben das, worum es geht im Ballett, worauf man als Tänzer hinarbeitet, die einen zum Zenit der eigenen Leistung und in Kontakt mit dem Publikum bringen. Wenn die Vorstellungen wegfallen, verliert auch das Training und überhaupt das Tänzerdasein an Bedeutung.

Der letzte Probentag des Ensembles vor dem Lockdown fand am 13. März statt, einen Tag später hätte laut Plan eine Wiederaufnahme von „Schwanensee“ zur Aufführung kommen sollen. Daraus wurde nichts mehr. Insgesamt zwei Monate befand sich das Ensemble im „Home-Office“, wobei diese Bezeichnung auf die Situation der Tänzer*innen eher wenig zutrifft. Bereits eine Woche nach der Schließung der Oper begann der Ballettmeister Yannick Sempey mit dem täglichen Online-Unterricht via Zoom, die Ensembleleitung hatte dafür den Tänzer*innen jeweils einen 1,5 x 2 Meter großen Tanzteppich nachhause liefern lassen.

Spitzenathletik im Wohnzimmer?
Doch wie trainiert es sich in den eigenen vier Wänden vor dem Bildschirm, mit wenig Platz, ohne Ballettstange, ohne geeigneten Schwingboden und ohne die leibliche Präsenz des Lehrers und der Kolleg*innen? „Im Grunde unterscheidet sich mein Online-Unterricht nicht sehr stark von meiner üblichen Unterrichtspraxis“, erzählt Yannick Sempey. Das Exercise an der Stange habe er exakt so gestaltet wie sonst auch, und sogar ein Großteil der Kombinationen in der Mitte konnte auf engstem Raum durchgeführt werden. Was beim Training zuhause laut Sempey jedoch am meisten gefehlt habe, seien raumgreifende Variationen und dynamische Sprungfolgen. Dadurch habe besonders die Ausdauer und Kondition der Tänzer*innen gelitten. Und es ist natürlich ein enormer Unterschied, statt wie gewohnt sieben oder acht Stunden Training und Proben im Studio plötzlich nur noch eineinhalb Stunden Training täglich im eigenen Zuhause zu haben.

„Für die Tänzer*innen ist es jetzt ganz wichtig, zu akzeptieren, dass die eigene Leistungs­fähigkeit gesunken ist. Sich selbst zu sagen, dass es OK ist“, erklärt Anneli Chasemore, Mitbegründerin und Leiterin des Health Departments beim Staatsballett Berlin, dessen Aufgabe es ist, die physische und mentale Gesundheit der Tänzer*innen zu optimieren. Während des Lockdowns hat sie gemeinsam mit ihrer Kollegin Soraya Bruno die Ensemblemitglieder in Bezug auf Stressbewältigung, Ernährung und alternative Trainingsmethoden beraten und unterstützt.

In Gänze absehbar sind die Auswirkungen des Lockdowns auf die Körper der Tänzer*innen laut Chasemore bisher noch nicht, da der Ensemble-Alltag noch lange nicht wiederhergestellt ist. Zwar haben die Tänzer*innen Mitte Mai wieder mit dem Training im Studio beginnen können, auf Grund der Einhaltung der Hygienevorschriften allerdings nur in einem stark reduzierten Rahmen. Einige Wochen später folgte die Sommerpause. Auch wenn durch das Training zuhause versucht wurde, die Muskelerinnerung so gut wie möglich zu erhalten, sind es laut Anneli Chasemore vor allem die dynamische Sprungkraft und die kleinen feinen Muskeln, die über diese lange Zeit nicht aufrechterhalten werden konnten. Was die Tänzer*innen durch so eine Pause wahrscheinlich zuerst einbüßen, ist ihre Schnelligkeit, das schnelle „Feuern“ der Muskeln, das sie nun erst wieder langsam und möglichst ohne Druck aufbauen müssen. Umso wichtiger war es für Anneli Chasemore und Soraya Bruno, als Ansprechpartnerinnen für die Sorgen der Tänzer*innen da zu sein, und nicht nur in Fragen von Ernährung, Fitness und der Entwicklung einer Tagesstruktur, sondern auch in Bezug auf Ängste und Stress zu beraten.

Verschobene Tanz-Räume
Verändert haben sich während des Lockdowns nicht nur die tanzenden Körper, sondern auch die inneren und äußeren Räume. Der kleine rechteckige Tanzteppich versinnbildlicht eine radikale Verkleinerung des Tanz-Raums – die Tänzer*innen hatten nicht nur weniger Platz zum Tanzen, der Tanz nahm auch weniger Platz in ihrem Leben ein. Heruntergefahren wurde durch das Wohnzimmertraining die kinästhetische Wahrnehmung von Gruppe und Raum, das Studio als sozialer Raum ging verloren und eine Kunstform, die sich per se durch Dreidimensionalität und Miteinander auszeichnet, wurde ins Flache, auf den Bildschirm verlagert, um sie überhaupt am Leben erhalten zu können. Wie äußern sich die durch das Einkapseln in den Wohnungen, durch die Hinwendung zum Innen und weniger zum Außen veränderten mentalen und physischen Zustände in der Körperarbeit? Und wie hat sich auch der innerkörperliche Raum der Tänzer*innen verändert?

Die Demi-Solotänzerin Dana Pajarillaga berichtet, wie schwierig die erste Zeit während des Lockdowns für sie war: „Besonders hart war, nicht mehr ins Studio zu können, die Kolleg*innen nicht mehr zu sehen, und dass alles, was mit dem Tanz zu tun hat, auf dem Bildschirm stattfand. Ich fühlte mich anfangs plötzlich sehr uninspiriert, ich wusste nicht mehr, welche Rolle der Tanz in meinem Leben hat. Es hat sich nicht gut angefühlt, nichts mehr produzieren zu können, meiner künstlerischen Praxis nicht mehr richtig nachgehen zu können. Die mentale Schwere habe ich auch in der Körperarbeit gespürt.“ Trotzdem beschreibt Dana Pajarillaga, wie sich gleichzeitig neue Räume für sie geöffnet hätten, wie sie durch eine erstmalig intensive Beschäftigung mit Yoga zu neuem Fokus gefunden und durch intensive Gespräche mit anderen Menschen mehr über sich selbst herausgefunden hat.

Auch für Alexander Abdukarimov bedingen sich mentale und körperliche Zustände gegenseitig: „Ein halbes Jahr ohne bzw. mit reduziertem Training ist nicht so lang, dass man die Fitness und Leistung nicht wiedererlangen könnte. Aber das Denken verändert sich, und das beeinflusst den Körper viel mehr als das fehlende Training. Die Welt verändert sich, sie schwankt, und so schwankt auch der Körper.“

Choreografie in Zeiten der Pandemie
Angenommen, die Kunstform Tanz spiegelt in ihrer Arbeit mit dem Körper immer auch die gegenwärtige gesellschaftliche Lage, dann dürfte die aktuelle, in jeglicher Hinsicht außergewöhnliche Situation die künstlerische Arbeit maßgeblich mitbestimmen. Der Alltag ist ein anderer, ethisch-moralische Vorstellungen und die geistige, emotionale, körperliche Verfassung haben sich verändert, die Zukunft erscheint ungewisser – die Welt wankt, wie es Abdukarimov formuliert. Neben der Herausforderung, neue Strategien für die eigene Stabilisierung zu finden und das frühere Leistungsniveau rasch wieder zu erreichen, hat die Corona-Krise Auswirkungen nicht nur auf den Arbeitsalltag einer Ballettkompanie, sondern auch auf ihren kreativen Output: Wie ist das Choreografieren in Zeiten von Covid-19 möglich? Und konkret auf das Kreieren unter Lockdown-Bedingungen bezogen: Wie passt sich die Choreografie an, wenn sie zuhause auf engstem Raum und aus der Isolation heraus entwickelt wird und die erforderliche räumliche Distanz zu anderen Körpern Teil des choreografischen Denkens ist? Was macht das Fehlen anderer Körper mit der ästhetischen Praxis? Wie bewegen und berühren sich Körper in pandemischen Zeiten?

Acht Tänzer*innen des Staatsballett Berlin haben sich diesen Fragen gestellt – und während des Shutdowns für sich selbst oder ihre im Haushalt lebenden Kolleg*innen eigene Choreografien entwickelt. Anfang September werden die künstlerischen Ergebnisse unter dem Titel „LAB_WORKS COVID_19“ an der Komischen Oper Berlin uraufgeführt.

Kreativer Output der Krise
Ästhetisch haben die Tänzer-Choreograf*innen sehr unterschiedliche Antworten gefunden. Ross Martinson, Demi-Solotänzer beim Staatsballett Berlin sowie Gasttänzer bei Sasha Waltz & Guests, hatte bereits eine Solo-Arbeit für die Online-Gala zur Spielzeiteröffnung 2020/21, „From Berlin with Love“, entwickelt. Daran anknüpfend präsentiert er auch bei „LAB_WORKS COVID_19“ ein Solo, das mit Tanz und Sprache arbeitet. Der Text, den er im Stück sprechen wird, ist ungefiltert aus der Situation des Lockdowns heraus entstanden. Er folgt keinem stringenten Narrativ, sondern ist rohes Wortmaterial. Die Bewegungen haben sich ebenfalls aus der Enge und Isolation heraus generiert, so Martinson, und fanden Ausgangspunkt und Begrenzung auf dem kleinen Tanzteppich in der eigenen Wohnung. Das entstandene Tanzsolo verarbeitet die persönliche Erfahrung des Lockdowns und reflektiert damit das Tänzerdasein während der Pandemie.

Alexander Abdukarimov hat die Zeit der Isolation genutzt, um eine Idee umzusetzen, die er schon vor Beginn der Krise hatte. Er beschäftigt sich in seinem Stück, das von zwei Tänzer*innen mit den geltenden Abstandsregelungen auf der Bühne getanzt wird, mit der Beziehung zwischen Bewegung, Sound und Video. Dafür arbeitet er mit Sensoren: Bewegungen der Tänzer*innen steuern mit ihrer Hilfe sowohl Sound als auch Videoprojektion. Trotz der räumlichen Distanz zwischen den Körpern eröffnen sich mit Hilfe von Hightech neue Räume der Interaktion zwischen den Tänzer*innen und der sie umgebenden Umwelt. Abdukarimovs Interesse gilt dabei einer feinen Wahrnehmung des Gegenübers, einem Bewusstsein für das Miteinander. Gerade in einer Zeit, in der Vieles ins Digitale zu verflachen droht, sei es wichtig, die Umwelt und die Anderen wahrzunehmen und dialogische Räume zu schaffen – nur so könne Zusammenhalt entstehen, wie der Tänzer-Choreograf sagt.

Die Idee für die Arbeit von Dana Pajarillaga hingegen entstand durch die intensive Beschäftigung mit der Black Lives Matter-Bewegung während der Corona-Krise und mit ihrer eigenen Identität als queere Woman of Color mit philippinischen Wurzeln. Entstanden ist ein Duett, das die Themen Herkunft und Identität, Ungleichheit und weiße Vorherrschaft behandelt, eine Arbeit über Unterschiede und Gemeinsamkeiten, über solidarisches Miteinander, über Halten und Gehaltenwerden. In der Zeit der Isolation lag für Pajarillaga die Chance, sich diesen Themen einmal intensiv zu widmen. Ihre sehr persönlichen Gedanken und Fragestellungen dazu konnten sich während der Zeit der Pandemie Bahn brechen und in der choreografischen Arbeit ihren Ausdruck finden.

Die Stimmen der Tänzer*innen vermitteln insgesamt den Eindruck, dass die Pandemie neben allen negativen Folgen auch zu einem kreativen Output geführt hat, der sonst vielleicht nie stattgefunden hätte. Zu einem neuen Nachdenken über die eigene Kunstform: Wie verändert die Krise eigentlich unsere Perspektive auf Kunst, und welche Formen wollen wir dann für den Tanz finden?

Auch wenn der Ausblick in die Zukunft des Tanzes, analog zum Rest der Welt, momentan höchst ungewiss ist, ist in den Stimmen der Tänzer*innen und Ensemblemitglieder ein gewisser Aufbruch zu spüren, ein Pochen auf Zusammenhalt und Solidarität. Auch eine Ahnung vom Grenzen sprengenden Potential des Tanzes liegt in der Luft. Wie Alexander Abdukarimov nebenbei noch sagt: „Und dann stehe ich wieder im Studio, um mich herum ist die Luft und der Raum, und dann bekomme ich wieder Flügel.“

Staatsballett Berlin
LAB_WORKS COVID_19
3.-5. September 2020
Komische Oper Berlin
www.staatsballett-berlin.de

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