Kurz vor Weihnachten letzten Jahres, als der Tanz in Berlin durch die beschlossenen Kürzungen buchstäblich vor dem Abgrund stand, hat sich das Freelance Dance Ensemble Berlin gegründet. Die Initiator*innen Claire Vivianne Sobottke, Jared Gradinger, Silke Bake, Siegmar Zacharias, Sheena McGrandles, Martin Hansen, Jule Flierl und Laurie Young wollten damit ein Zeichen setzen und den Politiker*innen verdeutlichen, wie die Freie Szene funktioniert und wie diese Kürzungen ein ganzes Ökosystem zerstören würden. Ihre Website präsentiert die Freie Berliner Tanzszene als ein "Ensemble", das in seiner Größe und Vielfalt zusammensteht und Berlins weltweit beneidete Kulturszene als Impulsgeber entscheidend mitprägt.
Statement vom Freelance Dance Ensemble Berlin
Die aktuellen Haushaltskürzungen bedrohen die Existenz, die kontinuierliche Arbeit und die Zukunftsperspektiven der freiberuflichen Zeitgenössischer Tanz-/ Performance-Künstler*innen und Akteur*innen Berlins, ihre Infrastrukturen und ihre Spielstätten. Mit dem Freelance Dance Ensemble Berlin wollen wir Sichtbarkeit für Expertise, lokale und internationale Relevanz und Vernetzung der dynamischen Performing Arts-Landschaft in Berlin schaffen.
Jeder Projektantrag erfordert eine zeitintensive Vorbereitung, die eine Gestaltung komplexer Zeit- und Budgetpläne und die sorgfältige Zusammenstellung von künstlerischen Teams beinhaltet. In der letzten Förderrunde wurden nur ca. 9% der Anträge zur Einzelprojektförderung positiv entschieden. Bedingungen und Höhe der Fördermittel werden dem qualitativen und kreativen Potenzial der international geachteten Berliner Zeitgenössischer Tanz-/ Performance-Kunst nicht gerecht. Laut Systemcheck des BFDK 2021-23 / TanzAgenda24 sind 92% der Tanzschaffenden solo-selbständig. Viele haben ein jährliches Einkommen von ca. 15.000 €.
Wir fordern eine Umstrukturierung des Berliner Fördersystems im Dialog mit der Gemeinschaft der in dem Bereich Zeitgenössischer Tanz / Performance arbeitenden Akteur*innen: Statt kopfloser Kürzungen, die den erreichten Fortschritt und die Errungenschaften der Szene zunichtemachen, fordern wir ein zukunftsweisendes Update, eine gemeinsam erarbeitete Strategie, die eine generative und nachhaltige Zukunft fördert.
Neben der Rückgängigmachung der Kürzungen fordern wir außerdem verbesserte Arbeitsbedingungen:
Die geplanten Kürzungen und ihre unilaterale Umsetzung – ohne Rücksprache mit den am meisten Betroffenen – sind in unseren Augen nicht nur ein Symptom für die Ignoranz und Unkenntnis gegenüber unseren ohnehin schon prekären Arbeitsbedingungen, sondern auch ein Beleg für das fehlende Verständnis der komplexen Strukturen, die unserer Arbeit zugrunde liegen. Diese Strukturen sind die Grundlage für unsere oft interdisziplinären, kollaborativen und hoch engagierten, politischen und sozialen, performativen Praktiken.
Hiermit laden wir den Berliner Kultursenator und andere maßgebende Politiker*innen dazu ein, in einen Dialog mit uns zu treten, um ein tieferes Verständnis dafür zu erlangen, wie wir arbeiten und welche Bedingungen und Infrastrukturen unsere Arbeit erfordert.
Im Bereich Zeitgenössischer Tanz / Performance tätig zu sein bedeutet heute viel mehr als Bühnenwerke zu schaffen, zu proben und auf Tournee zu gehen. Es umfasst auch künstlerisch-wissenschaftliche Forschung, Praktiken der Fürsorge und soziale Arbeit, politische Arbeit, kontinuierliches Lernen, Lehren, Mentoring, essayistisches Schreiben, Management, Organisations- und Produktionsarbeit.
Die drastischen Einsparungen bei Strukturen – wie etwa dem Projektbüro Diversity Arts Culture oder der Berlin Mondiale; Strukturen, die Kulturschaffende über Jahrzehnte aufgebaut haben – ist ein Akt der Zerstörung und der Missachtung, insbesondere gegenüber marginalisierten Gruppen.
Wir weisen darauf hin, dass es durchaus Beispiele dafür gibt, wie Kulturarbeit nachhaltiger gestaltet werden kann. In Nachbarländern wie Frankreich und Belgien haben freischaffende Künstler*innen Zugang zum „status d'intermittence“, einem System, das in Zeiten der Arbeitslosigkeit oder bei Verletzungen Unterstützung bietet. In einem wirtschaftlich so starken Land wie Deutschland ist es unverhältnismäßig, dass freischaffende Künstler*innen und Ihre Co-Akteur*innen weit mehr als 40 Stunden in der Woche arbeiten, aber keine Aussicht auf eine Rente haben.
Künstlerische Expertise ist das Resultat einer kontinuierlichen finanziellen Investition in künstlerische Forschung und künstlerische Arbeit. Sie entsteht durch Zusammenarbeit und ist das Ergebnis der engagierten Arbeit vieler Menschen, von kompetenten und hochgradig ausgebildeten Teams, die Künstler*innen in langen Schaffensprozessen unterstützen.
Die Stadt Berlin und ihre Bewohner verdienen eine diverse, reiche, blühende Kunstszene und Künstler*innen, die nicht in der Prekarität gefangen sind. Angesichts der drohenden Kürzungen schlagen wir vor, einen kollektiven Prozess zur Entwicklung einer Gewerkschaft einzuleiten, um unsere Arbeit, unsere professionellen Bedürfnisse und unsere Rechte einzufordern und zu vertreten.
Drei Fragen an das Freelance Dance Ensemble Berlin
Was war der Startschuss, das Freelance Dance Ensemble zu gründen?
Wir waren eine Gruppe, die über mehrere Jahre in unterschiedlichen Konstellationen zusammengearbeitet hat. Wir haben uns schon lange über Arbeitsstrukturen ausgetauscht und über Alternativen nachgedacht. Angesichts der drohenden Kürzungen, die im Dezember beschlossen werden sollten, war es an der Zeit, auf eine sinnvollere Weise zusammenzukommen. Also versammelten wir uns in Silkes Küche zu einem epischen Brunch.
Wir beschlossen, aktiv zu werden – ein mutiges Statement abzugeben, das sowohl der Öffentlichkeit als auch den Politiker*innen verdeutlichen sollte, wie die Freie Szene funktioniert und wie diese Kürzungen ein ganzes voneinander abhängiges Ökosystem zerstören würden. Unsere Hoffnung war es, ein Format zu schaffen, das die komplexen Verbindungen zwischen den freien Kulturschaffenden im Tanzbereich aufzeigt – Tänzer*innen, Choreograf*innen, Bühnen- und Kostümbildner*innen, Musiker*innen, Dramaturg*innen, Produzent*innen, Kurator*innen, Vermittler*innen usw. Der Schwerpunkt unserer Website liegt nicht auf der Förderung einzelner künstlerischer Arbeiten, sondern auf der Präsentation der Berliner Freien Tanzszene als „Ensemble“ - als eigenständiges Ökosystem. Diese Initiative entstand aus der Not heraus und entwickelte sich schnell, so dass sich bis zum 19. Dezember 2024 bereits über 200 Kulturschaffende beteiligten.
Was ist Eurer Meinung nach das Besondere an der Freien Tanzszene in Berlin, und wie profitiert die Stadtgesellschaft von ihr?
Kultur ist ein wesentlicher Bestandteil der Berliner Wirtschaft, und die Stadt ist international als Heimat für Künstler*innen bekannt. Sie lebt von ihren Subkulturen, künstlerischen Initiativen und Veranstaltungsorten, die alle von einer vielfältigen internationalen Tanzszene mit einer großen Bandbreite an Ästhetiken, Produktionsmethoden und Praktiken geprägt sind. Was sie aber wirklich zusammenhält, ist ihre selbstreflexive, diskursive und kritische Denkweise. Wir versuchen, besser miteinander zu arbeiten, indem wir inklusive Codes of Conduct, die gemeinsame Nutzung von Ressourcen oder kollektive Praktiken einführen. Und dies geschieht trotz oder gerade wegen des Konkurrenzgefühls, das durch mangelnde Transparenz und Förderungen entstehen kann. Die Szene ist gewachsen dank erschwinglicher Mieten, Atelierräumen und einer Stadt, die Kultur wertschätzt. Doch all das ist bedroht.
Was plant Ihr als nächstes?
Seit Januar sind wir eine Arbeitsgruppe des ZTB e.V. und schließen uns mit anderen Organisationen zusammen, um unsere Diskussionen zu teilen und unsere Bemühungen zu verstärken. Wir sind aktiv auf der Suche nach lokalen, nationalen und internationalen rechtlichen Rahmenbedingungen, die einen Einblick in die strukturelle Unterstützung der freien Tanzarbeit in Berlin geben können. Wir haben uns bisher zweimal getroffen und planen regelmäßige monatliche Treffen. Bei unserem letzten Treffen haben sich mehrere Arbeitsgruppen zu Themen wie Selbsthilfe, Gewerkschafts- und Verbandsarbeit, politische Aktionen und Finanzierungsstrukturen für den Tanz gebildet.
Wie kann sich eine so vielfältige und breit gefächerte Szene behaupten? Wie können bestehende Infrastrukturen wie die Künstlersozialkasse verbessert werden, um den Realitäten unserer Arbeitssituation besser gerecht zu werden? Wie können wir als Freiberufler*innen in Zeiten von Vertragslücken finanziell abgesichert werden? Wie können wir produktive Beziehungen zwischen Künstler*innen, Förderinstitutionen, Spielstätten, Organisationen und Kulturschaffenden aufbauen? Was können wir von choreografischen Arbeits- und Denkweisen lernen?
Unser Ziel ist es, nicht nur zu überleben, sondern eine blühende, nachhaltige Kunstszene aufzubauen – eine, die von Zusammenarbeit und nicht von Bürokratie lebt. Das Freelance Dance Ensemble Berlin ist eine langfristige Initiative, die sich sowohl mit unmittelbaren Herausforderungen als auch mit systemischen Veränderungen beschäftigt. Je mehr wir sind, desto stärker werden wir. Lasst uns gemeinsame Horizonte schaffen und die Rolle der Bittsteller*innen hinter uns lassen.
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