Verlier Dich selbst
Die Arbeitsrealität von Tanzschaffenden in der Freien Szene war schon immer prekär, durch die aktuellen und noch anstehenden Kürzungen verschärft sich die Lage noch weiter. Die Choreografin und Tänzerin Kasia Wolinska beschreibt das Karrieremodell der freien Tanzschaffenden als einen aufwändigen Wettlauf um knappe Ressourcen innerhalb eines neoliberalen kapitalistischen Systems. Sie beschreibt, wie eine grundlegende Instabilität, die Selbstverständlichkeit von unbezahlter Arbeit und die roman-tische Vorstellung von Kunst als Berufung die Arbeitsbedingungen der Tanzschaffenden prägen. Sie spricht sich aus für einen alternativen wachstumkritischen Ansatz für die Gestaltung der zukünftigen Tanzszene.
Kasia Wolińska
Choreografin, Tänzerin, Autorin
Dieser Text greift ein Kapitel aus einem Essay auf, den die Tanznacht Berlin 2023 in Auftrag gegeben hat. Bei der Festivaleröffnung drückte Berlins Kultursenator Joe Chialo seine Wertschätzung und Unterstützung für die freie Tanzszene aus. Anderthalb Jahre später bemüht sich diese Szene angesichts erheblicher Kürzungen in der Kulturproduktion um eine Neuausrichtung. In diesem Text versuche ich, einige systemische Bedingungen, mit denen Tanzschaffende konfrontiert sind, sowie die damit verbundenen Einstellungen und Dilemmata zu untersuchen. Der Text ist weder vollständig noch völlig objektiv, und ich befinde mich selbst im Zentrum dieser Dynamiken – als Künstlerin, die sowohl Erfolge erlebt hat als auch mit wiederkehrenden Misserfolgen und Ablehnungen zu kämpfen hatte.
Die Karrieremodelle, die den meisten Künstler*innen heutzutage zur Verfügung stehen1 , stellen das dar, was Annelies van Assche als ein „Jede-Person-für-sich-selbst-Umfeld"2 beschreibt. Der Markt der darstellenden Künste, der auf Festivals, kuratorischen Programmen, offenen Ausschreibungen und Projektbewerbungen basiert, ist ein sehr ausgeklügelter und bürokratisch virtuoser Wettlauf um knappe Ressourcen, bei dem die Erfolgskriterien ebenso komplex wie undurchsichtig sind. Im Rahmen des projektbasierten Paradigmas steht die Menge an unbezahlter Arbeit, die geleistet werden muss, um ein Konzept zu entwickeln (für ein Kunstprojekt, eine Forschungsarbeit, ein Stipendium), um institutionelle und künstlerische Netzwerke für seine potenzielle Realisierung zu sichern (Koproduktionen, Kollaborateur*innen usw.) und um eine große Anzahl von Dokumenten einzureichen, die den eigenen Wert beweisen, nicht im Gleichgewicht mit der Transparenz in Bezug auf die Auswahlprozesse und die Kriterien, die bei der Antragsbewertung angewandt werden. Berlin ist voll von Kreativen aller Altersgruppen, Geschlechter und Ethnien, und doch entdecken wir angesichts der andauernden wirtschaftlichen und politischen Krise das beunruhigend große Ausmaß an Projekten und Karrieren, die begraben, die ausgebrannt sind und die nie stattfinden sollten. Die Strukturen der Kunstproduktion und ihre Finanzierung sind nach wie vor die größten Hürden in diesem Bereich, der sich um Vielfalt und Integration bemüht.
TU, WAS DU LIEBST, UND DU WIRST KEINEN EINZIGEN TAG IN DEINEM LEBEN ARBEITEN
Die Flexibilisierung von Arbeit, das Gebot der Selbstständigkeit und der Wettbewerb kennzeichnen das Arbeitsumfeld vieler Künstler*innen und gehen einher mit der allgemeinen Instabilität eines begrenzten Zugangs zu Sozialleistungen, bezahlbarem Wohnraum oder anderen Unterstützungsstrukturen – was es wiederum erschwert, feste persönliche Beziehungen zu pflegen oder die kreative Arbeit mit Aufgaben der sozialen Reproduktion (z. B. Care-Arbeit) zu verbinden.
(T)he most generous subsidy to the arts comes from the artists themselves, in the form of unpaid labor.3
In Anbetracht der Kosten einer Tanzausbildung und der erforderlichen finanziellen und persönlichen Investition ist der Zugang zu einer solchen Karriere und Identität weitgehend auf diejenigen beschränkt, die sich auf familiäre Unterstützung, eine Erbschaft, Immobilienbesitz oder eine andere Art von Zweiteinkommen verlassen können, um das Budget auszugleichen. Kunst zu machen erfordert Zeit und Mittel. Wer hat schließlich die Vollzeit- und Langzeitkapazität, um so zu arbeiten?
Die Entscheidung, "Tänzer*in" zu werden, war in der Vergangenheit selten durch wirtschaftliche Anreize motiviert. Wenn man sich mit weniger wirtschaftlicher und sozialer Sicherheit zufrieden gibt, wird dies oft durch die tatsächlichen und/oder vermeintlichen Vorteile kompensiert, die sich daraus ergeben, dass man das tut, was man gerne tut, oder dass man für seinen Lebensunterhalt spielt. Die Bohème der Kunstproduktion manifestiert sich in einem Mangel an Transparenz, insbesondere wenn es um Karrieremodelle und Arbeitsplatzdynamiken geht. Die ständige Mystifizierung der Mechanismen der Kunstwelt dient den Interessen des Marktes – der Akt des Schaffens wird vom Begriff der Arbeit getrennt, wodurch die Vorstellung verstärkt wird, dass es transzendente Gründe für den Kampf einer* Künstler*in gibt, der um des Ausdrucks willen geführt wird. Abgesehen von den Kunstuniversitäten, den Abschlüssen, den Kurse, den unbezahlten Jobs, den Praktika4 – Kunst ist eine Berufung, bevor sie ein Beruf ist. Und um ehrlich zu sein, glaube ich, dass sie beides ist, aber wir müssen die Bedeutung der damit verbundenen Arbeit hervorheben, bevor wir die Erfüllung künstlerischer Träume feiern. Die Verwischung der Arbeitsplatzgrenzen und die unklaren Bedingungen für den künstlerischen Erfolg tragen meines Erachtens dazu bei, dass viele Berufstätige im Rennen bleiben, auch wenn sie kaum Chancen haben, ihren Lebensunterhalt in diesem Bereich zu verdienen. Die Anwesenheit aufstrebender und weniger erfolgreicher Individuen und ihre Arbeit und Investition in die Szene(n) sind für den Erfolg der "Gewinner" jedoch unerlässlich. Schließlich sind es die Künstler*innen selbst, die einen großen Teil des Tanzpublikums, der Workshop-Teilnehmer*innen und der Anhängerschaft etablierter Choreograf*innen ausmachen. Ich betrachte dies als eine natürliche Erscheinung innerhalb eines neoliberalen kapitalistischen Wirtschaftsmodells, das auf der sozioökonomischen Ungleichheit von Individuen in einem bestimmten Bereich beruht – vor allem, wenn Sichtbarkeit (und "Coolness" oder "Hotness") den größten Wert darstellt. Künstler*innen werden allgemein ermutigt, angesichts anstrengender und unhaltbarer Produktionsweisen eher Resilienz zu zeigen als zu widersprechen, während die systemischen Bedingungen, die die Mehrheit der Kunstschaffenden zum Kampf zwingen, nicht angegangen werden.5
THE IMPOSSIBLE FOREST6
In my understanding, performance is also a micropolitical and embodied experimentation with temporality, a daily continuous process of rearrangement and redistribution of collective, collaborative, and relational desires, a continuous re-creation of the common.7
Wenn der Erfolg einer Person weitgehend von ihrer Fähigkeit abhängt, präsent und engagiert zu bleiben, droht die Unfähigkeit, etwas zu produzieren – aufgrund fehlender finanzieller Mittel, Erschöpfung, Krankheit usw. – der Person, zu verkümmern. Die Traurigkeit darüber, nicht einbezogen oder eingeladen zu werden, ist mit der existentiellen Angst vor Unsichtbarkeit und Unerwünschtheit, vor dem Überflüssigwerden verbunden. Unsichtbarkeit kennzeichnet auch einen Großteil der (re)produktiven Arbeit, die das Feld erhält, auf dem die Früchte der Visionen von Künstler*innen wachsen können. Ich beziehe mich dabei nicht nur auf Produzent*innen, Dramaturg*innen, Pädagog*innen, Vermittler*innen, technische Teams usw., sondern auch und vor allem auf Einzelpersonen und Kollektive, die sich in Praktiken der Solidarität, Basisorganisation und gegenseitigen Unterstützung engagieren. Nach meiner persönlichen Erfahrung in Berlin sind die meisten dieser Personen Frauen8, die unentgeltlich arbeiten oder für relativ bescheidene Löhne Überstunden machen. All diese miteinander verbundenen Beziehungen und Abhängigkeiten bilden die Grundlage für das Gedeihen der darstellenden Künste und bedürfen als solche weit mehr Anerkennung und Schutz als einzelne künstlerische Produktionen, Festivals oder Veranstaltungsorte. Ich glaube, dass angesichts der tiefgreifenden gesellschaftlichen Atomisierung Solidarität und gegenseitige Unterstützung über die unmittelbaren persönlichen Kreise oder geschmacklichen Vorlieben hinaus das Potenzial haben, einen tieferen Sinn zu bieten, der es der Szene ermöglicht, außerhalb produktorientierter und ausbeuterischer Ökonomien zu existieren.
Individuals who think of themselves as independent beings, who don’t need anyone, who base their existence not on relationships with others but on individualism, are precisely those who lose their freedom to a large extent, especially in employment relationships (…) and find themselves the objects of the most unbridled exploitation because, as individuals, they have the weakest position in the market.9
Abschließend möchte ich die Möglichkeit eines eher rhizomatischen, horizontalen Wachstums als alternativen Ansatz für die Gestaltung der zukünftigen Tanzszene hervorheben – einen Ansatz, der die Erosion der Arbeiter*innensolidarität und die Dominanz der Starkultur in Frage stellt. Gewerkschaftliche und kollektive Bemühungen sowie die individuelle und kollaborative Neuformulierung von Ambitionen und Arbeitsparadigmen sollten in den kommenden Jahren Vorrang haben, um weiteren Sparmaßnahmen entgegenzutreten, die von zunehmend rechten Regierungen in Deutschland, der EU und weltweit eingeführt werden. Wie können wir uns letztlich auf öffentliche Gelder verlassen, wenn die Agenda des Staates unseren erklärten Werten widerspricht? Wie kann die kulturelle Produktion der Zensur, der Kontrolle und dem Zwang widerstehen, der durch finanzielle und legislative Instrumente ausgeübt wird? Wer kann oder sollte ein*e Künstler*in sein (und wie) in einer Welt, die in Flammen steht?
The forest stood there, green, next to the ruins.10
Ein großes Dankeschön an Kasia Kania für ihre Unterstützung beim Schreiben dieses Textes.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Essay The Bearleeners are dancing, erschienen im Rahmen der Tanznacht Berlin.
2023 - 25 Jahre Tanznacht:
www.tanznachtberlin.de/tanznachtberlin2023
www.kasiawolinska.weebly.com
1 Ich schreibe hier im Besonderen über den geopolitischen Kontext der Freien Tanzszene in Berlin.
2 Annelies van Assche: Labor and Aesthetics in European Contemporary Dance (Palgrave Macmillan 2020), 14.
3Katja Praznik: Which side are you on? On Understanding Art as Labour and the Potential of Collective Organising of Art Workers, in: What side are you on. Ideas for Reaching Fair Working Conditions in the Arts (IETM Publication 2022), 8.
4Neben diesen Faktoren müssen wir auch Gender, Race, Sexualität, Ethnizität, Nationalität, Klasse und Gesundheit als Aspekte der sozialen Positioniertheit berücksichtigen, wenn wir versuchen, die Komplexität des Zugangs zum Kunstfeld zu verstehen. So kann beispielsweise die Wahrscheinlichkeit, Künstler*in zu werden (und in diesem Bereich zu bleiben), anhand des sozioökonomischen Status der Eltern einer Person beurteilt werden. www.wmagazine.com/story/artists-wealthy-families-background-study
5Nach meinen Recherchen geht es nicht nur darum, ob ein*e Künstler*in in der Lage ist, sich vor der Einreichung eines Antrags auf ein Projekt / Stipendium finanzielle Mittel zu sichern, z. B. für Koproduktionen oder Aufenthalte. Es geht auch um seine*ihre Geschichte von institutioneller Unterstützung, seinen*ihren Status früherer künstlerischer Kooperationen, Preise, Auszeichnungen und andere Zeichen der kulturellen und klassenmäßigen Zugehörigkeit. Diese Elemente formen zusammen das Bild einer* "einzigartigen", erfolgreichen und verdienten Künstler*in, der*die in der Lage ist, seine*ihre Leistungen zu steigern. Dieses Narrativ der "Exzellenz" wird nun in der Rhetorik rund um Joe Chialos Reformagenda für den Berliner Kultursektor deutlich.
6Der Titel des choreografischen Gartenprojekts, das von Jared Gradinger im Hof der Uferstudios entwickelt wurde.
7 Bojana Kunst: Making temporal kinships: Beyond the project, in: What side are you on. Ideas for Reaching Fair Working Conditions in the Arts (IETM Publication 2022), 18.
8Ich habe mich für ein binäres Wort entschieden, um die historischen Wurzeln der Arbeitsteilung hervorzuheben.
9Sergio Bologna: We Can’t Leave the Idea of Freedom to the Far Right!, Dec 10, 2021.
10Ursula K. Le Guin: The Word for World Is Forest (Gollancz, 2022), 11.