Total voll, total divers
Auch bei Tanz im August 2019 präsentiert Virve Sutinen die Tanzkunst wieder in all ihrer Vielfalt.
Elisabeth Nehring
Tanzjournalistin
Längst widerlegt ist die Annahme, dass der zeitgenössische Tanz unter Jugendwahn und dem Hype ums immer Neue leidet. Seit vielen Jahren wenden sich Choreograf*innen jeglicher Provenienz und künstlerischer Vorliebe Werken der Vergangenheit zu, rekonstruieren, bearbeiten, aktualisieren und erforschen die Tanzhistorie auf ganz verschiedenen Wegen. Die hat damit auch Einzug in die Programme von Spielorten und Festivals gehalten – allen voran bei Deutschlands größtem Tanzfestival Tanz im August, dem Direktorin Virve Sutinen dankenswerter Weise bisher in jeder Ausgabe eine Retrospektive verordnet hat.
Ein halbes Jahrhundert Tanzpraxis erleben
In diesem Jahr steht Deborah Hay im Mittelpunkt – und aus der Retrospektive wird eine „RE-Perspective“, die von 1968 bis heute schaut und unter dem Motto steht: Wie können wir unseren Blick auf die Vergangenheit erneuern? Dafür eröffnet Hay, Mitbegründerin des Judson Dance Theater in Manhatten und einflussreiche Choreografin der Postmodern-Dance-Bewegung, das Festival mit zwei Uraufführungen. Anders als in vielen ihrer früheren Produktionen arbeitet sie für „Animals on the Beach“ mit professionellen Tänzer*innen zusammen, ebenso wie für die Deutschlandpremieren von „The Match“ (mit dem Cullberg Ballet) und „ten“, das sie im Radialsystem zusammen mit zehn namhaften Tanzkünstler*innen Berlins wiederaufnimmt. In dem Solo „my choreographed body... revisited“ kann man die 78-Jährige mit dem halben Jahrhundert Tanzpraxis selbst erleben – und dank des umfangreichen Beiprogramms aus Symposium, Künstler*innengesprächen, Publikation und Videoinstallation alles schön Revue passieren lassen.
Ein weiterer Rückblick gilt Hays großem Kollegen Merce Cunningham, der dieses Jahr 100 Jahre alt geworden wäre. Das Jubiläum des US-amerikanischen Choreografen, der durch seine Experimente mit Zufallsprozessen sowie ungewöhnliche Zusammenhänge zwischen Tanz und Musik und dem Überschreiten der Grenzen traditioneller Bühnenräume künstlerische Meilensteine in der Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes geschaffen hat, muss natürlich gebührend gefeiert werden. Das neu aufgestellte Dance On Ensemble hat dafür den Auftrag bekommen, zusammen mit dem Cunningham-Experten Daniel Squire das 1963 entstandene, sich in jeder Aufführung wandelnde Stück „STORY“ mit neuem Bewegungsmaterial zu kombinieren und daraus eine „BERLIN STORY A re-imagination of Merce Cunningham’s STORY“ zu machen.
Und dann noch …, und … , und …!
Interessanterweise spielt die Auseinandersetzung mit der (Tanz-)Vergangenheit auch in zwei weiteren Uraufführungen des Festivals eine besondere Rolle: Jérôme Bel setzt seine Porträtreihe fort und widmet sich mit „Isadora Duncan“ erstmalig einer verstorbenen Künstlerin, während die fabelhafte Eszter Salamon in „MONUMENT 0.7: M/OTHERS“ den Generationenvertrag im Allgemeinen und das Verhältnis zur eigenen Mutter im Besonderen erforscht. Um Weiblichkeit und deren Konstruktion bzw. Dekonstruktion geht es auch der Berliner Choreografin Claire Viviane Sobottke in ihrem bei Tanz im August uraufgeführten Solo „Velvet“, während das Choreograf*innen-Duo deufert&plischke in „Liebestod“ vertonte Liebesgeschichten auf die Bühne bringt und damit die Liebe als Antrieb für künstlerische Produktivität untersucht.
Neben der Präsentation von mit Berlin schon lange assoziierten oder hier beheimateten Künstler*innen hat Festivalleiterin Virve Sutinen auch für ein paar ganz neue Namen gesorgt. Neugierig macht die hier bislang völlig unbekannte Oona Doherty, die mit „Hard To Be Soft – A Belfast Prayer“ in die nordirische Verfasstheit und die finsteren Seiten ihrer Heimatstadt blicken lässt. Der Schmutz und die Hoffnung, die Rauheit des Umgangs unter Männern und eine „sugar army“ aus selbstbewussten jungen Frauen (in Berlin mit Berlinerinnen) treffen in dem vierteiligen Tanzabend aufeinander. Aus Japan kommt die Choreografin Kaori Seki mit ihrer Kompanie Co. PUNCTUMUN und zeigt mit einer Landschaft aus meditativ verschmelzenden Körpern, wie eine post-humane Zukunft auf dem Planeten Erde aussehen könnte. Die Kanadierin Catherine Gaudet dagegen wendet sich in „The Fading of the Marvelous“ einer ganz weltlichen, rohen Körperlichkeit zu, die unendliche Variationen durchläuft und schließlich in erschöpfender Ekstase endet.
Und dann noch: acht Stunden Benoît Lachambre und Sophie Corriveau, Alan Lucien Øyen und die winter guests, La Ribot mit der inklusiven Kompanie Dançando com a Diferença, nora chipaumire undundund ... Tanz im August bietet in diesem Jahr ein total volles, total diverses und sehr spannendes Programm. Virve Sutinen beschreibt die diesjährige Ausgabe treffend, wenn sie sagt: Ein Festival ist die Ausnahme vom Gewöhnlichen!