Ausgabe November-Dezember 2024

Too Much is Never Enough – ein Liebesbrief an Bad Girls und Melodrama Suits Her

"Melodrama Suits Her" von Tümay Kılınçe. Foto: Dorothea Tuch

Zu viel ist nie genug: Die Choreografin, Performerin und Drag Queen Olympia Bukkakis schreibt für tanzraumberlin über Camp und dessen politisches und oft vernachlässigtes Potenzial für den Tanz und die Performancekunst. Mit Fokus auf die Produktionen Bad Girls von Oozing Gloop und Anali Goldberg sowie Melo-drama Suits Her von Tümay Kılınçel, untersucht Bukkakis die Arbeit mit Emotionalität, Übertreibung und marginalisierten Identitäten, und zeigt, wie Camp und Melodrama als eman-zipatorische und zukunftsweisende Strategien dienen können. Eine Liebeserklärung an das Überbordende, das Hyperemo-tionale und an all das „zu viel“ auf den Tanz- und Performancebühnen.

Olympia Bukkakis
Choreografin, Drag Queen

 

Die Mittelschicht fühlt sich mit jeglicher Art von Exzess eher unwohl. Während den Ultrareichen und der Arbeiterklasse extravagante Gefühlsäußerungen nicht fremd sind, definiert sich die Mittelschicht oft durch ihre Abstinenz von exzessiven Vergnügungen. Dies gilt auch für unser Feld. Beim Übergang von Auftritten in Neuköllner Kellern zu zeitgenössischen Tanzbühnen lernte ich, die Dinge eher als "interessant" denn als "umwerfend" zu bezeichnen und den leicht schmerzhaften Blick der Fremdscham zu erkennen, der sagte, dass ich eine Idee oder ein Gefühl transportiert hatte, das naiv, übermäßig sentimental oder einfach "zu viel" war.

Natürlich trifft das, wie alle pauschalen und lustigen Aussagen, nicht immer zu. Kürzlich habe ich zwei Stücke gesehen, die ich im Geiste des Exzesses nur als die BESTEN Shows beschreiben kann, die ich in meinem GANZEN LEBEN gesehen habe. Bad Girls von Oozing Gloop und Anali Goldberg – something jewish and sexual, das am 16. Juni 2024 in den Sophiensælen Premiere hatte, und Melodrama Suits Her von Tümay Kılınçel, das am 25. Mai 2024 im HAU uraufgeführt wurde. Während beiden Shows spürte ich etwas, das ich im Theater nur selten empfinde: eine dringende, überschäumende Erregung und Freude. Ich hatte das Gefühl, dass diese beiden Stücke speziell für mich gemacht waren, und ich wurde neugierig, woher dieses Gefühl genau kam.

IST DAS ETWAS FÜR MICH?

Eve Kosofsky Sedgewick, eine der führenden Queer-Theoretikerinnen, schreibt, dass das 'Sentimentale', dieser Gefühlsüberschwang, im 17. und 18. Jahrhundert ein "Begriff des hohen ethischen und ästhetischen Lobes" war, im 20. Jahrhundert aber "über die pathetische Schwäche hinaus zu einem tatsächlichen Prinzip des Bösen" wurde (1990: 150). Es lässt sich mit Sicherheit sagen, dass starke Gefühlsausbrüche aus der Mode gekommen sind. Sedgewick vertritt die Auffassung, dass die beiden wichtigsten Erscheinungsformen der Sentimentalität im Kulturkonsum und in der Kulturproduktion des 20. Jahrhunderts 'Kitsch' und 'Camp' sind.

Kitsch ist eine Klassifizierung, die die Kategorie des 'Sentimentalen' verstärkt, indem sie als Schutzschild gegen Ansteckung dient (1990: 155). Wenn ich ein bestimmtes Objekt als Kitsch bezeichne, sage ich damit, dass es sentimental und unkultiviert ist, und dass ich dieses Urteil fällen kann, weil ich nicht sentimental und in der Tat ziemlich kultiviert bin. Dieses Urteil setzt voraus, dass es noch jemanden gibt, der sich von dem Kitschobjekt leicht manipulieren lässt und es naiv konsumiert. Diese*r Kitschkonsument*in würde niemals das Wort 'Kitsch' verwenden und ist, wie ich hinzufügen möchte, definitiv der Arbeiterklasse zuzuordnen oder bestenfalls neureich (was für Kitschkritiker*innen wahrscheinlich noch schlimmer ist).

Camp bietet eine weniger snobistische Perspektive. Sedgwick schreibt: "Die typisierende Geste des Camps ist eigentlich etwas verblüffend Einfaches: Der Moment, in dem ein*e Kulturkonsument*in die wilde Vermutung äußert: 'Was, wenn die Person, die das gemacht hat, auch gay war? Anders als bei der Zuschreibung von Kitsch stellt sich bei der Anerkennung von Camp also nicht die Frage: "Welche minderwertige Kreatur könnte wohl die richtige Person für dieses Spektakel sein?", sondern es wird gefragt: "Was wäre wenn? Was wäre, wenn genau ich das richtige Publikum für dieses Spektakel wäre?" (p.156). Wenn die Person, die ein Objekt als Kitsch anprangert, unbewusst ein Geschmacksempfinden identifiziert, das auf einer Klassenabgrenzung beruht (bei der sie sehr hofft, als Sieger*in hervorzugehen), so behauptet die Camp-Perspektive, dass es neben der offensichtlichen, oberflächlichen Sichtweise noch eine andere, in der Regel marginalisierte Weise gibt, das kulturelle Artefakt zu lesen.

Um zu verstehen, was Camp eigentlich ist, muss man Susan Sontags Notes on Camp (1964) lesen. Wenn ich das in einem Absatz zusammenfasse, würde ich die Form des Originaltextes verraten, daher hier einige Kernpunkte, der Kürze halber überarbeitet:

● Das Wesen von Camp ist die Liebe zum Unnatürlichen: zum Künstlichen und zur Übertreibung.

● Viele Beispiele für Camp sind Dinge, die aus 'seriöser' Sicht entweder schlechte Kunst oder Kitsch sind.

● Camp sieht alles in Anführungszeichen. Es ist nicht eine Lampe, sondern eine "Lampe"; nicht eine Frau, sondern eine "Frau".

● Camp in Objekten und Personen wahrzunehmen, bedeutet, das Sein als Spielen einer Rolle zu begreifen. Es ist eine sensible Erweiterung der Metapher vom Leben als Theater.

● Die ultimative Camp-Aussage: Es ist gut, weil es furchtbar ist... Natürlich kann man das nicht immer sagen. Nur unter bestimmten Bedingungen.

 

WENN ICH GUT BIN, BIN ICH SEHR SEHR GUT, ABER WENN ICH SCHLECHT BIN, BIN ICH BESSER – MAE WEST

Bad Girls hat die Form eines Gesprächs zwischen zwei bösen Mädchen, die im Urlaub sind: Agnes (Oozing Gloop) und Lydia (Anali Goldberg). Es gibt ein paar brillante Lippensynchronisationen in doppelter Geschwindigkeit zu Camp-Klassikern (Total Eclipse of the Heart & Mein Herr) und viele hinausgezögerte Übergänge, in denen sie eine Zigarette rauchen oder ein Sandwich mit einem benutzten Kondom essen. Es gibt zwar eine erzählerische Linie (sie gehen natürlich in den Hades), aber ich fühlte mich an Sontags Anmerkung 33 erinnert: "Was Camp anspricht, ist eine Art 'instant character'... Charakter wird als ein Zustand ständigen Glühens verstanden – eine Person ist eine einzige, sehr intensive Sache... Wo immer es eine Entwicklung des Charakters gibt, wird Camp reduziert." Während die Entwicklung der beiden Charaktere im Laufe der Zeit durch dramaturgische Lippenbekenntnisse voranschreitet, besteht das wahre Vergnügen beim Anschauen von Bad Girls darin, die beiden Darstellerinnen dabei zu beobachten, wie sie ein überfließendes, freudiges, glühendes Etwas sind. Der Vorrang des unmittelbaren Charakters erleichtert auch eine Art neurodivergente Dramaturgie, die Gloop als den Einsatz interessanter visueller und auditiver Eindrücke definiert, anstatt sich auf Handlung und Text zu verlassen. Gloop und Goldberg bedienen sich einer Art von kläglichem, bitterem Camp (das an John Waters erinnert), bei dem der bewusste und präzise Einsatz von dramatischem Scheitern eine sehr spezifische Art eröffnet, sich mit ihnen durch das Stück zu bewegen. Anali wurde von ihrem Vater, einem Modedesigner, inspiriert, der leuchtende Farben liebte, und von ihrer Urgroßmutter Zimbül Zizi Arie, einer jüdischen Frau, die 1900 in der heutigen Türkei geboren wurde. Sie erinnert sich daran, dass sie immer lachte, nie einen BH trug und häufig Scherze unter Einsatz ihres Körpers machte, z. B. ihre Brille mit ihrem Hemd abwischte, um ihre Brüste zu zeigen. Hierüber gewann Anali ein Gefühl für die Clownerie, die sich daraus ergibt, "der verletzlichste Körper im Raum" zu sein (als ein Mitglied der jüdischen Diaspora oder als queerer Körper auf der Bühne), und die es ihr ermöglicht, auf eine Weise aufzutreten, die zum Lachen einlädt, aber auch ein zartes Gefühl von Außenseitersolidarität vermittelt.

Sontag behauptet bekanntlich, dass Camp "losgelöst, entpolitisiert – oder zumindest unpolitisch" ist. Diese Behauptung wurde oft widerlegt, vielleicht am bekanntesten durch Judith Butlers Konzept der Gender-Performativität, das Drag als Beispiel anführt (siehe Gender Trouble / Das Unbehagen der Geschlechter und Bodies that Matter / Körper von Gewicht). Es wird viel darüber diskutiert, ob Drag Geschlechternormen stärkt oder destabilisiert, und all das ist langweilig. Meistens wird davon ausgegangen, dass Drag bedeutet, sich wie eine Dame oder ein Herr zu kleiden und das war's. In Wirklichkeit sind wir Künstler*innen mit einer Vielzahl von Ästhetiken, Praktiken und politischen Positionen, weshalb die Politik des Camp, über das wir sprechen, so wichtig ist. Bad Girls ist zu komplex und interessant, um sich auf die Dekonstruktion von Geschlechterrollen zu beschränken. Stattdessen bietet das klägliche Camp von Gloop und Anali eine einzigartige sensorische Erfahrung und bildet die zärtliche Freude am Schwelgen im Außenseiterstatus ebenso ab wie den großzügigen Wunsch, die Früchte dieser Erfahrung zu teilen.

Melodrama Suits Her ähnelt Bad Girls und unterscheidet sich gleichzeitig stark davon. Beide Stücke wurden mit sehr unterschiedlichen Budgets produziert, die Autorinnen kommen aus unterschiedlichen Milieus und haben unterschiedliche sexuelle und geschlechtliche Identitäten. Während Bad Girls mit einem urkomischen DIY-Urlaubssetting beginnt, bei dem im Hintergrund eine tropische Version des Star-Wars-Themas läuft, beginnt Melodrama Suits Her damit, dass die drei Darstellerinnen (Tümay Kilincel, Ixchel Mendoza und Qadira Oechsle-Ali) entspannt auf einer Couch sitzen und das Publikum anstarren. Leila Moon trägt ein wunderschönes Kleid, das vorne so unpraktisch lang ist, dass sie es in den Händen halten muss, um sich zu bewegen. In einer Choreografie, die an Telenovelas erinnert, lassen sich die Darstellerinnen fallen und drapieren ihr Haar kunstvoll auf einem Tanzboden in einem perfekten Rot, das, wäre es eine Lippenstiftfarbe, "freudige Witwe" heißen würde.

Tümay erklärte mir, dass der Titel dieser Arbeit von einem Buch inspiriert ist, das sie 2008 unter dem Titel Kadına Melodram Yakışır – Türk Melodram Sinemasında KadınImgeleri (Melodrama steht Frauen – Frauenbilder im türkischen Melodrama-Kino) fand. Sie ließ sich von der Zweideutigkeit dieser Figuren inspirieren, die die Gefahren des Ausbruchs aus der traditionellen Frauenrolle symbolisierten, aber auch die Möglichkeit boten, starke Gefühle auszudrücken: "Wenn jemand so verzweifelt ist und weint, gibt es einen Grund, und der muss herauskommen." Tümay wollte zudem die Gelegenheit nutzen, sich von einer eurozentrischen Priorisierung der Bewegung gegenüber der Musik zu lösen und beide Elemente auf eine Ebene stellen. Melodrama Suits Her wird als eine Arbeit 'gegen den männlichen Blick' angekündigt, die versucht, die weiblichen Stereotypen, die wir im Kino sehen, zu brechen. Dies ist im Stück auch zweifellos zu erkennen, erklärt aber nicht das atemberaubende Bühnenbild, die exquisiten Kostüme, den samtigen Reichtum von Leila Moons Stimme, die von einer Live-Bratsche (gespielt von Fatmanur Şahin) begleitet wird. Die Re-Präsentation dieser überdrehten weiblichen Kino tropes ist, wie in Bad Girls, sowohl reichhaltiger als auch nuancierter als eine einfache Dekonstruktion frauenfeindlicher Kulturfragmente.

FEMINISTISCHES CAMP

Vieles, was über Camp geschrieben wird, hebt die Beziehung zwischen schwulen Männern und dieser besonderen Sensibilität hervor, aber es bleibt wahr, dass ein Großteil der besten Aufführungen von Camp von Frauen stammen. Es überrascht nicht, dass die weibliche Arbeit, die in der Camp-Produktion steckt, oft unterschätzt wird. In ihrer Geschichte des "feministischen Camps" weist Pamela Robertson darauf hin, dass "wir dazu neigen, es als selbstverständlich anzusehen, dass viele weibliche Stars Camp sind und dass die meisten Stars im Pantheon des schwulen Camps Frauen sind: Man denke an Garland, Streisand, Callas, Dietrich, Garbo, Crawford, um nur einige zu nennen...". Dies deutet darauf hin, dass Frauen zwar Camp sind, sich aber nicht bewusst als Camp inszenieren und darüber hinaus nicht einmal Zugang zu einer Camp-Sensibilität haben (1996:5).

Tümay gab mir zu verstehen, dass sie das Gefühl hatte, Melodrama Suits Her würde zum Teil als Reproduktion dieser dramatischen Figuren gelesen, ohne eine ausreichend starke Kritik zu üben. Ich konnte nicht verstehen, wie jemand das sehr offensichtliche kritische feministische Camp in dem Stück übersehen konnte, aber, was noch wichtiger ist: Ich dachte, dass es ein schwerer Fehler ist, diese Personen als bloße Figuren sexistischer Phantasien abzutun. Erstens, weil die Betrachtung der kaleidoskopischen Wunder des menschlichen Geschlechtsausdrucks durch die Linse der politischen Tugend eine unnötige Verarmung und eine Ablenkung von dringenderen Dingen ist. Wenn wir zu viel Zeit damit verbringen, den geschlechtsspezifischen Praktiken und Stilen, die wir im Alltag anwenden, politische Bedeutung beizumessen, vergessen wir, darüber nachzudenken, welche materiellen Strukturen wir brauchen würden, um eine freiere und gerechtere Gesellschaft zu schaffen, wie zum Beispiel staatlich geförderte Kinderbetreuung, universelle Bildung über einvernehmliche, fürsorgliche Beziehungen und einen freien und sicheren Zugang zu Abtreibungen sowie geschlechtsspezifische Gesundheitsversorgung. Es ist weniger wichtig, wer mit 10 cm hohen Absätzen und Ruby Woo-Lippenstift in die Kita, zum Endokrinologen oder in die Abtreibungsklinik geht. Aber zweitens glaube ich, dass es hier ein weiteres emanzipatorisches Potenzial gibt, das jenseits einer liberalen oder reformistischen Perspektive liegt.

UTOPISCHES CAMP (ODER DIE NOTWENDIGKEIT, MEHR ZU FORDERN)

In vielen grundlegenden Schriften über Camp wird die Existenz der Trans-Perspektive ignoriert, und vielleicht werden gerade deshalb die produktiven utopischen Möglichkeiten des Camps manchmal übersehen. Bini Adamczak argumentiert, dass "die historischen Geschlechter, einschließlich der Beziehungen, die sie schaffen, und der Existenzweisen, die sie hervorbringen, als ein Repertoire an affektiven, gewohnheitsmäßigen, intellektuellen und praktischen Reichtümern verstanden werden müssten, aus denen eine Gesellschaft im Prozess ihrer Befreiung wählen kann" (2018:174). Lydia und Agnes sowie die verschiedenen Personae von Melodrama Suits Her artikulieren eine Form von Weiblichkeit, die auf verschiedene Weise 'scheitert', aber spielerisch fordert, ernst genommen zu werden. Es ist sicher ein Witz, aber es ist ein Witz, der uns auffordert, das Potenzial verschiedener geschlechtsspezifischer Ausdrucksformen zu würdigen – auch solcher, die uns unangenehm sind. Natürlich ist es schlecht, wenn unsere kulturelle Produktion uns sagt, dass alle Frauen hyperemotionale Wirbelstürme des Affekts sind. Aber es ist auch schlecht, wenn keine von uns hyperemotionale Wirbelstürme des Affekts sind. Diese Figuren, die mehr wollen, die verlangen, dass die Welt sich ausdehnt, um ihre überbordenden Empfindungen zu fassen, die scheitern, die erschöpft sind, die auf ihre sterbliche Körperlichkeit bestehen, gehören in unsere Zukunft. Mit Blick auf die Zukunft macht es keinen Sinn, eine Geschlechter-Politik der Sparsamkeit zu pflegen. Bad Girls & Melodrama Suits Her verlangen nach mehr und liefern es auch. Dafür bin ich ihren Macher*innen zutiefst dankbar.

 

Literaturverzeichnis

● Bini Adamczak: Beziehungsweise Revolution: 1917, 1968 und kommende. Berlin: Suhrkamp, 2018.

● Eve Kosofsky Sedgewick: Epistemology of the Closet. Berkeley & Los Angeles: University of California Press, 1990.

● Pamela Robertson: Guilty Pleasures: Feminist Camp from Mae West to Madonna. Durham: Duke University Press Books, 1996.

● Susan Sonntag: Notes on Camp, in: Against Interpretation. New York: Farrar, Straus and Giroux, 1966.

 

Folgt uns