The Body in Full Readiness
Ein brasilianisches Jiu-Jitsu-Turnier als Bühnensituation.
Die Choreografin und Performerin Agata Siniarska lernt seit einem Jahr die Kampfsportart Brazilian jiu-jitsu. Für tanzraumberlin schreibt sie über ihre Erfahrungen mit dieser Kampfkunst, die die aus dem japanischen Judo und Jiu Jitsu entstanden ist, den Fokus aber mehr auf Bodenkampf legt. Sie zieht Parallelen zwischen Kampfsport und Tanz in Hinblick auf performative Techniken, Dramaturgie und Präsenz und begreift Kampfsport sowie Tanz als Wege, sich selbst auszudrücken.
Agata Siniarska
Choreografin und Performerin
Ich persönlich glaube, dass es viele Verbindungen zwischen brasilianischem Jiu-Jitsu1 (kurz: BJJ) und Zeitgenössischem Tanz gibt; in Beidem geht es um Raum, Zeit, Bewegungstechniken und Körper. In diesem kurzen Text möchte ich mich auf die performativen Verbindungen zwischen diesen beiden Praktiken konzentrieren. Abgesehen vom körperlichen Training ist BJJ eine Kampfsportart, und der Kampf vor einem Publikum ist immer auch eine spezifische Bühnensituation. Die Vorbereitung auf das Turnier2, der Kampf und die Zeit nach dem Kampf spiegeln meiner Meinung nach einen ähnlichen Verlauf wider wie die Vorbereitung einer Tanzaufführung, ihre Premiere und die Zeit danach.
Die Vorbereitung auf einen Jiu-Jitsu-Kampf ist sehr spezifisch. Die Zeit wird in Vorkampf, Kampf und Nachkampf unterteilt. In meinen Gesprächen mit mehreren BJJ-Kämpfer*innen berichteten alle von privaten Ritualen (die ich hier nicht nennen kann), speziellen Diäten, vorbereitenden Übungen, Meditationen usw. Die meisten Kämpfer*innen bereiten eine Art choreografische Partitur vor, einen Plan für den potenziellen Kampf: welche Position will ich einnehmen, welche Griffe werde ich verwenden, was ist, wenn ich nicht kann, usw. Dieser Plan wird während des Kampfes als Echtzeitkomposition durchgeführt. Im Vorhinein visualisieren die Kämpfer*innen oft den Kampf und seine verschiedenen Szenarien. Wie im Tanz ist die Visualisierung eine der wichtigsten Vorbereitungstechniken im BJJ.
Kurz bevor es auf die Matte geht, wärmen sich die Kämpfer*innen auf, und zwar nicht mit einem gewöhnlichen Aufwärmtraining, sondern bereits im Kampfmodus. Wenn du deinem Gegner gegenüberstehst, musst du absolut bereit sein; du darfst nicht zögern, denn es geht um Leben und Tod. Und dann gehen die Kämpfer*innen (genau wie Künstler*innen) auf die Matte, angetrieben von einem Ultra-Instinkt, der die Wachsamkeit von Körper und Geist vereint. Die Zeit verändert sich, sie verläuft nicht mehr linear sondern ist außer Kraft gesetzt. Jede*r Performer*in kennt genau dieses Gefühl!
Der Kampf ist nicht nur eine körperliche Begegnung, sondern auch eine wilde Umarmung mit allen möglichen Geweben, eine extreme Nähe zweier Körper, zwischen denen der symbolische Tod lauert. Wenn sich ein*e Kämpfer*in dem Gegenüber unterwirft, bleibt die Zeit abrupt stehen, der*die unterlegene Kämpfer*in gibt auf, ein symbolischer Tod tritt an die Stelle des physischen. Es ist nicht nur ein Höhepunkt, sondern auch der Moment der Rückkehr in die soziale Ordnung, in das Leben, das man hinter sich gelassen hat. Die Aufführung ist vorbei, man hat dem Tod ins Auge geblickt und ist nun bereit, in den Alltag zurückzukehren, der zwar derselbe ist, aber doch ganz anders. Der Körper speichert von Natur aus die Erinnerung an jeden Kampf. Kämpfer*in und Performer*in tragen die Spuren des Kampfes in sich, ein lebendiges Archiv eines außergewöhnlichen Moments.
Nach einem Kampf, genau wie nach einer Premiere, werden die Kämpfer*innen zunächst mit einem Gefühl der Hyperpräsenz konfrontiert und unmittelbar danach mit einem Abfall der Körperchemie, einem Gefühl der Leere, des Mangels an Kreativität.
So wie eine Solo-Performance niemals ein Solo-Werk ist, sind die Vorbereitung auf einen Kampf, der Kampf selbst und die Zeit nach dem Kampf gleichzeitig Einzel- und Gruppenerlebnisse. Kämpfer*innen werden von Ihrem Coach vorbereitet, betreut, körperlich und geistig unterstützt. Dein Coach ist dein*e Dramaturg*in. Du bereitest dich auch vor, indem du mit deinen Kolleg*innen trainierst, und mit ihrem Wissen und ihrer Hilfe entwickelst du deinen eigenen, einzigartigen Kampfstil. Jeder Mensch kämpft anders, so wie jeder Mensch anders tanzt, da jeder Körper und jeder Mensch einzigartig ist. BJJ ist eine Art, sich auszudrücken, gerade im Hinblick auf eine Performance. Was für eine Kämpferin ich bin, was für eine Performerin ich bin, das ist mein Spiel. Sowohl Performer*innen als auch BJJ-Kämpfer*innen stehen im Mittelpunkt – nicht nur um zu gewinnen, sondern um ein Zeitfeld jenseits der täglichen Routine zu schaffen und mit dem Publikum zu teilen, einen unirdischen Raum und eine körperliche Leistung, die einfach außergewöhnlich ist.3