Depression wird oft als individuelles Defizit betrachtet – etwas, das repariert, geheilt und überwunden werden muss. Doch was, wenn sie vielmehr ein Symptom gesellschaftlicher Zwänge ist? Die Dramaturgin Jette Büchsenschütz schreibt für tanzraumberlin über die Erkenntnis, dass psychische Belastung auch eine Reaktion sein kann auf prekäre Arbeitsverhältnisse wie wir sie in der Freien Szene gewohnt sind, auf soziale Isolation oder ökonomischen Druck. Sie hinterfragt die gängigen Narrative über Depression und zeigt, wie sich Widerstand, Solidarität und Zusammenhalt jenseits der neoliberalen Logik von Produktivität und Effizienz neu denken lassen.
Jette Büchsenschütz
Dramaturgin
„You don’t need to be fixed, my queens –
it’s the world that needs the fixing“ (Johanna Hedva)
Ich wurde im Jahr des Drachen geboren. Drachen, so wird gesagt, sind sehr von sich eingenommen und davon überzeugt, dass sie alles im Leben schaffen können. Gleichzeitig ist mein Geburtsjahr – und ich glaube nicht an Zufälle – auch das Jahr, in dem Prozac auf den amerikanischen Markt kam. Zwei Jahre später erhielt es die Zulassung in Deutschland unter dem Namen Fluoxetin und wurde schnell zu einem der meistverkauften Medikamente weltweit. Und es ist mit Sicherheit kein Zufall, dass innerhalb weniger Jahrzehnte die Zahl derer, bei denen eine schwere Depression diagnostiziert wurde, um das Tausendfache gestiegen ist.[1] Denn mit der wachsenden Verfügbarkeit von Psychopharmaka und Diagnoseschlüsseln veränderte sich auch die Wahrnehmung bzw. Diagnostizierbarkeit psychischer Erkrankungen – und die Erwartungen an die Betroffenen. Depression wurde zunehmend als individuelles Defizit betrachtet, das sich behandeln, korrigieren und „reparieren“ lässt.
„I [am] literally good for nothing“, schrieb der Kulturtheoretiker Mark Fisher und ergänzte: „Selbst als ich in der Psychiatrie war, hatte ich das Gefühl, nicht wirklich depressiv zu sein – ich simulierte den Zustand nur, um der Arbeit zu entgehen, oder, in der höllisch paradoxen Logik der Depression, ich simulierte, um zu verbergen, dass ich nicht fähig war zu arbeiten und dass es für mich in der Gesellschaft keinen Platz gab.“[2]
Diese „teuflisch paradoxe Logik“ der Depression beschrieb Fisher, der 2017 infolge langjähriger Depressionen Suizid beging, ziemlich präzise: Die Selbstanklage, der Vorwurf an sich selbst, die Krankheit nur als Vorwand zu benutzen, um die eigene Bequemlichkeit und Unfähigkeit zu vertuschen. Diese vermeintliche Unfähigkeit wird nicht als legitime Reaktion auf eine übermächtige Außenwelt verstanden, sondern als individueller Mangel, als ein Scheitern am eigenen Ich-Ideal – als etwas, das nur durch Selbstdisziplin, Arbeit, Produktivität und Kreativität repariert werden kann. „Don’t cry – work“ lese ich auf dem Buchrücken von Rainald Goetzes Irre während ich versuche, diesen Text zu schreiben. In unserem unaufhörlichen Streben nach Selbstoptimierung, Selbstverwirklichung und Anerkennung wird diese Schmach des Scheiterns nicht als Symptom gesellschaftlichen Zwangs wahrgenommen, sondern als individuelles Problem, das einem medizinischen Modell unterliegt. Etwas, das durch Medikamente und / oder Verhaltenstherapie behandelt werden, etwas, das schlussendlich geheilt[3] werden muss. Ein pathologischer Missstand, der um Heilungsmaßnahmen bettelt – und eben nicht Ausdruck eines sozioökonomischen und kulturellen Zwangs. Etwas Persönlich-Privates, das nur hinter verschlossenen Türen und in Anwesenheit des*der Therapeut*in gebeichtet wird: Ich nehme meine Meds, um aktiv zu bleiben und weiterzuarbeiten. Ich rede in der privaten Therapiesitzung, um in der Öffentlichkeit zu schweigen. Ich erstarre in einer Existenz ohne Zukunft, während mein Körper gleichzeitig in eine Welt aus Codes überführt wird: Auf einer Skala von eins bis zehn – bist du eine Sechs oder eine Neun? Wie lautet dein Wert? Im Moment des ökonomisch Dysfunktionalen entschwinde ich in ein Universum aus Daten und Diagnoseschlüsseln. Willkommen in der Welt der medizinischen Normcore!
Für viele Menschen in ähnlicher Lage ist psychische Not unter den aktuellen Bedingungen eine zutiefst isolierende Erfahrung. Sie entfremdet uns von uns selbst und unseren Gemeinschaften, zerstört unseren Alltag, nur um uns schließlich noch tiefer in ein normatives System zu drängen, das auf totale Individualisierung und Eigenverantwortlichkeit[4] beharrt: „Sie ist die Kehrseite der Depression – deren zugrunde liegende Bedingung darin besteht, dass wir alle auf einzigartige Weise für unser eigenes Elend verantwortlich sind und es deshalb verdienen.“[5] Es sind kulturelle Normen, die nicht nur unsere Verletzlichkeit und unsere Bedürfnisse missachten, sondern uns auch in eine moralische Falle locken, in der wir uns selbst die Schuld für unser Leid – sei es Armut, Chancenlosigkeit, keine Projektförderung oder eben Krankheit – geben. Und die wir lieber verbergen, aus Scham, Angst vor Ablehnung und Stigmatisierung. Der soziale Kontext hingegen, der in den meisten Fällen zur Entstehung von Stress und Depression beiträgt – sei es durch Arbeitsbedingungen, ökonomische Unsicherheit, Familie, Schule oder die Auswirkungen neoliberaler und kurzsichtiger Sparpolitik – bleibt unsichtbar. Passend dazu: Gerade wurde bekannt, dass der „Nummer gegen Kummer“, dem Berliner Sorgentelefon für Kinder, Jugendliche, Eltern und anderen Bezugspersonen, das Aus droht. Ab April plant die Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie unter der Leitung von Katharina Günther-Wünsch (CDU) der Diakonie die Mittel in Höhe von 100.000 Euro ersatzlos zu streichen.
Die schnelle, mobile und flexible Arbeitsweise im projektbasierten System der freien darstellenden Künste verlangt von uns eine ständige Verfügbarkeit – oft unter prekären Bedingungen, ohne soziale Absicherung, die Erholungsphasen ermöglichen würde und immer mit der Angst im Nacken, jederzeit ersetzbar zu sein. Die permanente Selbstvermarktung sowie die Auflösung der Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben durch kontinuierliches Networking erzeugen einen anhaltenden Druck, der den Alltag beherrscht. Besonders problematisch wird es, wenn Künstler*innen zur Resilienz gegenüber belastenden und unhaltbaren Arbeitsbedingungen ermutigt werden, anstatt diese kritisch infrage zu stellen, wie Kasia Wolińska in der vorherigen Ausgabe des tanzraumberlin-Magazins betont[6]. Gleichzeitig wird der kreative Bereich, wie Kasia auch schreibt, romantisiert: Die Leidenschaft für die Kunst soll über prekäre Lebens- und Arbeitsbedingungen hinwegtrösten, während finanzielle Stabilität und soziale Absicherung zweitrangig erscheinen. Doch die Realität sieht anders aus: Ohne faire Honorare, verlässliche Verträge und bezahlte Regenerationsphasen bleibt nachhaltiges künstlerisches Arbeiten im Tanzbereich eine Illusion vor allem für Menschen, die aufgrund von Krankheit, Care-Work, Trauer oder Elternschaft nicht an der allumfassenden Selbstvermarktungsparade teilnehmen können oder wollen. Und natürlich frage auch ich mich regelmäßig – why the hell tue ich mir das an?
Es hat Jahre gedauert, bis ich, auch mit der Unterstützung von Psychopharmaka und Gesprächstherapien, gelernt habe, mich all diesen Selbstzweifeln, dieser Angst zu stellen und meine Wut und Scham als Symptom zu verstehen. Erst dadurch verstand ich – in den Worten von Ann Cvetkovich –„[…] negative Gefühle zu entpathologisieren, damit sie als mögliche Ressource für politische Aktion und nicht als deren Antithese gesehen werden können.“[7]
In Depression: A Public Feeling (2012) hinterfragt Ann Cvetkovich die individualisierte Betrachtung depressiver Erkrankungen und ihre neurologische Erklärung als bloßes Ungleichgewicht von Neurotransmittern. In der Tradition von Initiativen wie dem Sozialistischen Patientenkollektiv (SPK) der 1970er-Jahre sieht sie stattdessen die Ursachen für individuelle und kollektive Zustände innerer Leere, Erschöpfung und Handlungsunfähigkeit in einer neoliberalen, individualisierten und rassistischen Gesellschaft und plädiert dafür, negative Gefühle aus dem vermeintlich Privaten in den öffentlichen Raum zu holen und die gesellschaftlichen Ursachen, Auswirkungen und Ausdrucksformen zu diskutieren. Ohne die Schwere der Erkrankung zu verharmlosen, insbesondere die Angst und Apathie, die es so schwer machen, aus ihr auszubrechen, widmet sie die Hälfte des Buches ihrer eigenen Depressionsgeschichte. Sie versteht emotionales Leid weniger als etwas, das geheilt werden muss, sondern als potenzielle Quelle für Überlebensstrategien, Widerstand, Gemeinschaftsbildung und kollektives Handeln – ein zentraler Gedanke feministischer und queerer Theorien, die Gefühle – insbesondere solche, die als negativ oder dysfunktional gelten – als zentrale Motivation politischer Subjektivität und sozialer Veränderung begreifen.[8]
Anstatt also Depressionen als ein Symptom von persönlichem Versagen oder als bloßes biologisches Defizit zu deuten, versucht Cvetkovich sie als kollektives Empfinden zu beschreiben, das, indem es sich das eigene Protestpotenzial bewusst macht, selbst gesellschaftliche Dynamiken anstößt. In dieser Perspektive wird Depression zu einer verkörperten Form der Kritik am gegenwärtigen System: ein Symptom der Zumutungen neoliberaler Leistungsideologie, der Fragmentierung sozialer Bindungen und der allgegenwärtigen Prekarität. Jenseits von psychotherapeutischen oder pharmakologischen Lösungen, und vor allem auch jenseits großer revolutionärer Theorieentwürfe, denkt Cvetkovich darüber nach, wie unterschiedlichste simple Alltagspraktiken, (in der Tradition von Arts & Craft und einer subversiven DIY-Bewegung wie Basteln, Handwerkeln, Stricken, Guerilla Gardening) aber auch religiöse oder spirituelle Rituale helfen, Überlebenskollektive zu bilden. Diese können eine entscheidende Rolle dabei spielen, mit Krankheit so umzugehen, dass ihr verborgenes, subversives Potenzial politisch wirksam wird.
Wir leben in einer Kultur, die uns zunehmend das Gefühl gibt, geheilt werden zu müssen, in der Gesundheit als individuelle Pflicht gilt. Doch wenn Widerstand an körperliche Präsenz und Aktivität gekoppelt ist, stellt sich die Frage: Was bedeutet politisches Handeln, wenn ich nicht die Kraft habe, mich lautstark – in der Öffentlichkeit – zu beteiligen?[9] In einer Gesellschaft, die nur das Sichtbare, Lautstarke und Effiziente als politisch wirksam – und förderwürdig – anerkennt, bleibt der unfreiwillige Rückzug in Krankheit unsichtbar – ein Zustand außerhalb unserer optimistischen Narrative von Handlungsmacht und Veränderungskraft.
Die Weigerung, sich dem Zwang zur Produktivität und ständigen Neuerfindung zu unterwerfen, kann eine bewusste Entscheidung sein – eine stille, aber radikale politische Haltung des Protests (wenn wir sie uns nur leisten könnten). Doch dafür braucht es Gemeinschaften, in denen wir uns in unserer ökonomischen und physisch-psychischen Verletzlichkeit wahrnehmen, anerkennen und füreinander sorgen. Niemand muss geheilt werden, nur der reale, manchmal tödlich endende, Leidensdruck anders, kollektiver, sensibler aufgefangen und organisiert werden.
Vielleicht denkst du jetzt: „Aber zu sagen, dass der Kapitalismus das Problem ist, hilft mir nicht immer, morgens aus dem Bett zu kommen.“ [10] I feel you. Die Erkenntnis, dass strukturelle Bedingungen unsere Erschöpfungen und Krankheiten mitverursachen, macht sie nicht automatisch leichter erträglich. Was dennoch hilft, sind Gemeinschaften, gewaltfreie Räume der Solidarität und eine chronische Fürsorge, die sich dem Diktat der Resilienz und Selbstoptimierung entziehen.
[1] Vgl. u. a. David Healy: Let Them Eat Prozac: The Unhealthy Relationship Between the Pharmaceutical Industry and Depression, 2004.
[2] Mark Fisher: Good for Nothing, in: the Occupied Times, 19.03.2014.
[3] Ich schreibe Heilung oder Gesundheit hier bewusst kursiv um auf die problematische Konstruiertheit hinzuweisen, auf der das Gegensatzpaar basiert. Innerhalb unseres westlichen, staatlichen Gesundheitssystems ist Gesundheit normativ verankert, d. h. Krankheit ist die Abweichung von einer gesunden, weißen und männlichen Norm. Vgl. u. a. Starhawk: Dreaming the Dark: Magic, Sex, & Politics, Boston: Beacon Press 1988.
[4] Mark Fisher bezeichnet es in Good for Nothing „responsibilisation“.
[5] Ebd.
[6] Kasia Wolińska: Verlier dich selbst, tanzraumberlin Magazin, Ausgabe März/April 2025.
[7]Ann Cvetkovich: Depression: A public feeling, Durham & London: Duke University Press 2012, S. 2.
[8] Vgl. u. a Sara Ahmed: The Cultural Politics of Emotion (2004) oder The Promise of Happiness (2010), David L. Eng und David Kazanjian (Hgs.): Loss: The Politics of Mourning (2002), Jack Halberstam: The Queer Art of Failure (2011), Lynne Segal: Radical Happiness. Moments of Collective Joy usw.
[9] Darauf geht auch Johanna Hedva in ihrem Essay Sick Woman Theory (2016) ein.
[10] Ann Cvetkovich und Karin Michalski: The Alphabet of Feeling Bad Now, S. 15, in: J. Hollenbach und R. A. McDonald (Hgs.): Re/Imagining Depression, Creative Approaches to “Feeling Bad”, Cham: Palgrave Macmillan 2021, S. 13–20.
Bibliografie
Ann Cvetkovich: Depression: A public feeling, Durham & London: Duke University Press 2012
Ann Cvetkovich und Karin Michalski: The Alphabet of Feeling Bad Now, S. 15, in: J. Hollenbach und R. A. McDonald (Hgs.): Re/Imagining Depression, Creative Approaches to “Feeling Bad”, Cham: Palgrave Macmillan 2021.
David L. Eng und David Kazanjian (Hgs.): Loss: The Politics of Mourning, Berkeley und Los Angeles: University of California Press 2002
David Healy: Let Them Eat Prozac: The Unhealthy Relationship Between the Pharmaceutical Industry and Depression, New York und London: New York University Press 2004
Jack Halberstam: The Queer Art of Failure, Durham & London: Duke University Press 2011
Johanna Hedva: Sick Woman Theory, Mask Magazine, 02. 03.2016
Kasia Wolińska: Verlier dich selbst, tanzraumberlin Magazin, Ausgabe März/April 2025
Lynne Segal: Radical Happiness. Moments of Collective Joy, London und New York: Verso 2017
Mark Fisher: Good for Nothing, The Occupied Times, 19.03.2014
Sara Ahmed: The Cultural Politics of Emotion, Edinburgh: Edinburgh University Press 2004
Sara Ahmed: The Promise of Happiness, Durham & London: Duke University Press 2010
Starhawk: Dreaming the Dark: Magic, Sex, & Politics, Boston: Beacon Press 1988
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