Menschenmassen, Anordnungen, bewegte Bilder, Pyrotechnik: Das Fußballspiel ist nicht nur ein Sport, sondern auch ein theatrales Ereignis. Der Journalist und Autor Patric Seibel hat die choreografischen Elemente des Fußballs gesucht und in den riesigen Kurvenbildern der Ultras auf den Rängen gefunden. Mit den kollektiv bewegten Körperornamenten schaffen die Fans sich auf den Tribünen eine zweite Welt – und inszenieren eine Sphäre in der der Glaube an die Kraft der Stadionbilder zählt.
Patric Seibel
Journalist und Autor
„Geblendet vom Glanz der Heiligen hält man die Fans für unwichtige Gefolgsleute. Doch die Macht der Heiligen wird nicht von diesen selbst hervorgebracht. Alle symbolischen Kräfte ihres Körpers und ihrer Handlungen sind ihnen durch die Aktivität der Gemeinde zugeflossen.“ (Gunter Gebauer)
Beim deutschen Pokalfinale im Mai dieses Jahres in Berlin haben wir es wieder erlebt: Eine gigantische Inszenierung der Anhänger*innen der beiden Finalmannschaften, Leverkusen und Kaiserslautern auf den Rängen des Olympiastadions. Vor allem die Aufführung der Fans des später unterlegenen 1. FC Kaiserslautern erregte Aufmerksamkeit. Im Zentrum der Kurve: die Symbolfigur des pfälzischen Traditionsclubs, ein gleichsam nach oben wachsender, in einem feurigen Kessel rührender roter Teufel in dreidimensionaler Optik, gerahmt von 20.000 in ornamentalen Mustern geordneten Fans in rot und weiß, überzogen von einem Feuerwerk aus Pyrotechnik: rote Flammen, roter Rauch, Raketen.
Hier waren idealtypisch die drei den Fans zugehörigen Elemente der Choreografie des Fußballs versammelt: Grafik, Menschenmuster, Pyrotechnik. Die ersten beiden sind gut integriert in die Ware Fußball, das dritte, die Pyrotechnik ist das verbotene Element und verkörpert das schmutzige Heilige dieser säkularen Religionspraxis. Die Pyrotechnik ist das widerständige Element einer selbstreflexiven Fankultur – ihre latente Bedrohlichkeit lässt sich intuitiv am Beispiel eines Textes von Walter Benjamin verstehen, der überhaupt nichts mit Fußball zu tun hat, sondern anlässlich des Feuerwerks zum französischen Nationalfeiertag in den 1930er Jahren entstand:
„Von Sacré-Coeur aus übergießen bengalische Feuer Montmartre {…} Zehntausende stehen am Abhang gedrängt und folgen dem Schauspiel. Und diese Menge kräuselt unaufhörlich ein Flüstern wie Fältchen, wenn der Wind im Mantel spielt. {…} Erwartet nicht diese dumpfe Menge ein Unheil, groß genug, um aus ihrer Spannung den Funken zu schlagen; Feuersbrunst oder Weltende, irgendetwas, das dies samtne, tausendstimmige Flüstern umschlagen ließe in einen einzigen Schrei, wie ein Windstoß das Scharlachfutter des Mantels aufdeckt?“
Auch die Fan-Kurve im Fußballstadion strahlt die Ambivalenz von Fest und Panik aus, die Benjamin in seinem Text evoziert. Die Ausgelassenheit liefert schöne Bilder und ist gut für das Business – die verbotenen Bengalos gefährden den Betrieb. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich die Performance der Fußballfans; sie bildet eine Seite des gemeinsam mit den Spielern und den Bildmedien gebildeten choreografischen Dreiecks.
Auch bei der EURO 2024 werden wir dieses Dreieck erleben, die Fans der Nationalmannschaften dann traditionell im Folkloremodus, verspielter als die mit heiligem Ernst agierenden Clubfans, mit einer eher dem Karneval verwandten Performance: bunt geschminkt und oft aufwändig gestylt und verkleidet als allegorische Figuren ihrer jeweiligen nationalen Tradition – Wikinger, Gallier, Toreros und viele mehr. Sie sind präsent auf Straßen und Plätzen, auf den Tribünen. Wenn die bei der Liveübertragung der Spiele von Kameras erfassten Fans sich dann selbst auf den Bildschirmen der Stadien erkennen, feiern sie ihr Bild häufig mit jubilatorischen Gesten, wie sie der Psychoanalytiker Jacques Lacan bei Kleinkindern vor dem Spiegel beobachtete – ein Hinweis auf die narzisstische Dynamik, die den Wettbewerb der Fans und Profis um Aufmerksamkeit prägt. Beide Milieus verbindet eine gemeinsame Ökonomie der Gesten und Zeichen. Beide schlagen Schlachten um den Blick der Anderen. Es ist ein narzisstischer Wettkampf, denn beide Seiten sind süchtig nach Spiegelbildern. Sie finden diese nicht im Wasser wie Narziss in der griechischen Mythologie, sondern in den Medien. Die digitale Revolution hat die Koordinaten hierfür grundsätzlich verändert
Fußball 2024 ist viel mehr, als der Wettbewerb der 22 Spieler auf dem Rasen. Die Choreografie der Körper und Bilder setzt sich fort auf den Tribünen und im Wechselspiel von Spielern, Fans und Bildmedien. Längst sind – insbesondere im Männerfußball – Spieler mehr als Sportler. Ihre Leistung mag herausragend sein. Aber erst ein etwas darüber hinaus macht sie zu Trägern einer Aura, verleiht ihnen das Charisma der Stars. Sie müssen ihre Performance kuratieren wie ein Kunstwerk, einen Torschuss von einer physikalischen Banalität zum Event verwandeln. Das gelingt ihnen einerseits, indem sie ihre Körper durch Training formen, mit Tattoos und Frisuren schmücken und damit permanent umgestalten und neu entwerfen; es geht hier um mehr, als um Effizienz und Zweck, es geht um Schönheit. Andererseits produzieren sie ihre eigenen Körperbilder: außerhalb des Platzes auf Social Media, innerhalb des heiligen Feldes durch theatralische Motive. Durch individuelle Choreografien beim Jubeln: jeder Spieler mit persönlicher Geste, mit eigener Zeichensprache, mal offensichtlich, mal enigmatisch. Beim gemeinsamen Auftritt setzen sich ganze Teams durch Tanzschritte und Gesten performativ in Szene. Man könnte in diesen Choreografien eine Renaissance der versunkenen theatralischen Tradition der Tableaux Vivants der erkennen, der lebenden Bilder. Mit solch lebendigen Schautafeln präsentierten Schauspieler*innen ab Mitte des 18. Jahrhunderts auf Straßen und Plätzen Allegorien komplexer Zusammenhänge für ein Publikum, das nicht lesen konnte.
Die Fans tun es den Spielern gleich. Seit 25 Jahren machen Ultras, organisierte Gruppen, auf den Stadiontribünen mit monumentalen Choreografien auf sich aufmerksam. Sie agieren, um etwas zu zeigen, um Bilder von sich zu produzieren. Die Ultra-Bewegung kam ursprünglich aus Italien. Sie verdrängte die traditionelle britisch inspirierte Kultur der Stadiongesänge und Sprechchöre in eine Nebenrolle. An deren Stelle ist eine großflächige optische Ausdrucksweise getreten: mit riesigen Kurvenbildern, Teppichen aus Menschen und Stoffen. Fast scheint es, als ob sich in den Ultra Praktiken Erbstücke eines barocken Katholizismus manifestieren und dabei die Spurenelemente einer bilderfeindlichen, calvinistisch inspirierten Tradition der anglikanischen low church verdrängt hätten. Die englischen Fußballstadien der 1970er Jahre wurden mit Kathedralen verglichen; die machtvollen Gesänge mit religiösen Hymnen. You’ll never walk alone heißt es im weltbekannten Fanlied des FC Liverpool. Es ist ein weltlicher Gebetstext. Entsprechend passte die britische Stadionkultur zur protestantischen Form des Oratoriums, einem religiösen Singspiel. Die theatralische Bildsprache der Ultras dagegen gehört schon eher zum Konzept des Gesamtkunstwerks der italienischen Oper.
Die Choreografien der Fans bedeuten auch Distinktion, wichtigstes Ritual der Ultras, die sich als Fan Elite verstehen. Die Darstellungen erfordern Disziplin und eine ausgezeichnete Organisation. Schließlich müssen Tausende im Stadion ihre Bewegungen kollektiv koordinieren. Gelungene Choreografien, die selbstredend auf eigenen Plattformen im Netz dargestellt und kommentiert werden, bedeuten Medienaufmerksamkeit und Anerkennung in der Szene.
Es gibt auch historische Vorläufer für massenhafte Inszenierungen dieser Art. In amerikanischen Sportstadien der 1920er Jahre wurden Tausende Menschen zu Mustern arrangiert, um das Publikum zu unterhalten. Siegfried Kracauer wertete diese geometrischen Formationen damals als eine Art Menetekel der totalitären Erfassung von Menschen. Er sah in den Körperornamenten einen von allem Religiösen entkernten modernen Kult der seine Teilnehmenden komplementär zum fordistischen Kapitalismus anordnete, in dessen Werkhallen diese Körper im Rhythmus der Fließbandproduktion funktionierten – und in Europa wenige Jahre später in die Formationen des Faschismus mündeten.
Die Massenornamente Kracauers haben aber wenig gemein mit den zeichenhaften Mustern der Fußballfans. Sie betreten im Stadion bewusst eine zweite Welt wie sie der österreichische Philosoph Robert Pfaller beschrieb: Als eine bewusste Inszenierung einer Sphäre des als ob, als einen organisierten Eskapismus. Der Profifußball ist eine von vielen zweiten Welten, die sich Menschen in ihren kulturellen Praktiken selbst erschaffen. Sie wissen, dass sie mit dem Betreten dieser zweiten Welt auch eine andere Wirklichkeit herstellen, glauben aber an diese für die Zeit, in der sie sich in ihr aufhalten. Der französische Psychoanalytiker Octave Mannoni unterscheidet zwischen fois, dem fundamentalen, echten Glauben und croyance, einem augenzwinkernden Aberglauben. Wie diese croyance ist der Glaube der Ultras an die Kraft ihrer Stadionbilder beschaffen. Sie wissen, dass der Glaube an diese Bildkraft einer zweiten Welt entspringt, aber innerhalb der Sphäre Fußball Geltung beanspruchen kann. Diese Haltung ist die Vorbedingung für den heiligen Ernst, mit dem sie ihre Choreografien inszenieren.
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