Ausgabe September-Oktober 2024

Ein Tag über Gastfreundschaft und multisensorische Performance.

Oder mit anderen Worten: Über den Widerstand gegen Vermutungen und Sprache(n) als Zugang.

"Pelle" von Alfredo Zinola Productions. Foto: Dorothea Tuch

Wie laden wir unser Publikum ein? Was bedeutet eine gelungene Gastgeber*innenschaft und welche Rollen spielen Access und Barrierefreiheit? Die Choreografin Julia B. Lapièrre hat an dem vom Theater o.N. in Zusammenarbeit mit dem tanzhaus nrw organisierten Fachaustausch "Wie laden wir ein? – Zur Verschmelzung von Access und Gastgeber*innenschaft in der künstlerischen Produktion" teilgenommen und schreibt für tanzraumberlin über ihre Erfahrungen. Sie berichtet von multi-sensorischen Ansätzen im Tanz und denkt über Sprache als Form von Access und über Zuschauende als Expert*innen nach.

Julia B. Laperrière
Choreografin und Performerin

 

EINE RADIKALE EINLADUNG

Der Tag begann mit einem Workshop über Gastfreundschaft unter der Leitung von Micaela Kühn Jara. Sie erinnerte uns zunächst daran, dass nicht alle Anwesenden deutsche Muttersprachler*innen sind, und ermutigte uns, kurze Sätze und einfaches Vokabular zu verwenden. Es stellte sich die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Zugang, oder, wie ich versucht bin, es zu nennen: Sprache als Zugang.

Anschließend ging es um eine Einführung in das Konzept der Gastfreundschaft des französischen Philosophen Jacques Derrida, der seine Spuren auch in der Tanzwissenschaft hinterlassen hat. Derrida unterscheidet zwischen "bedingter" und "unbedingter" Gastfreundschaft, wobei letztere die uneingeschränkte und bedingungslose Aufnahme von Fremden suggeriert, während erstere die Anwendung von Bedingungen impliziert. Nach Derrida müssen zwischen diesen beiden Figuren Verantwortlichkeiten und Entscheidungen ausgehandelt werden. Während er dies meist in politischer Hinsicht diskutiert – z.B. in Bezug auf Grenzen und politische Entscheidungen – schlägt Kühn vor, das Konzept auch auf die Kunst anzuwenden und die Rollen, die wir traditionell als Performance-Macher*innen annehmen, in Frage zu stellen. Sie führt ein konkretes Beispiel an:

PELLE - Alfredo Zinola Productions

In PELLE werden den Erwachsenen die Augen verbunden und sie werden von Kindern in den Raum geführt. Auf der Bühne angekommen, sind sie eingeladen, die Performer*innen zu berühren, um sie in Bewegung zu bringen. Auch hier führen die Kinder die Erwachsenen und erleichtern ihnen die taktile Erfahrung.

In PELLE fungieren die Zuschauenden als Aktivator*innen. Ohne ihre Beteiligung findet das Stück nicht statt. Das Setting stellt die traditionellen Rollen und Hierarchien zwischen Publikum und Performer*innen sowie Erwachsenen und Kindern in Frage und wirft die Frage auf, wer hier für wen verantwortlich ist. PELLE ist radikal in der Verteilung von Verantwortlichkeiten und der Umkehrung sozialer Hierarchien aber auch der Hierarchien der Sinne, da ein multisensorischer Ansatz verfolgt wird, der das Sehen entthront. Den Kindern wird plötzlich die doppelte Verantwortung übertragen, sich sowohl um ihre Betreuer*innen als auch um die Künstler*innen zu kümmern, die Entwicklung des Stücks liegt in ihren Händen.

BEDINGTE GASTFREUNDSCHAFT

  • Reziprozität (Erwartungen an die Gäste)

  • Besuchsrecht aber kein Bleiberecht

  • Anforderungen (Grenzkontrollen, Ausweiskontrollen, etc.)

  • Feste Rollen (Gastgeber*in bleibt Gastgeber*in und Gäste bleiben Gäste)

UNBEDINGTE GASTFREUNDSCHAFT

  • Offene Türen

  • Von den Gästen wird nichts erwartet

  • Keine Grenze / Tür / Schlüssel, keine Ausweiskontrollen

  • Alle sind willkommen, auch unerwartete Gäste

  • Fließende Rollen (z.B.: Gäste können die Gastgeber*innenschaft performen, etc.)

 

ROLLENSPIEL

Inspiriert von Derridas Konzept kann es interessant sein, die Rollen, die wir spielen, genauer zu betrachten und zu sehen, wie fest sie sind. Wenn wir davon ausgehen, dass die Zuschauer*innen die Gäste spielen, und die Institution und ihre Mitarbeiter*innen den*die Gastgeber*in spielen, könnte man sagen, dass die Künstler*innen (oder der Tanz) das Essen sind – oder das, was serviert wird.

Bei Theaterstücken für junges Publikum ist die Gastgeber*innenschaft oft ein wichtiger Teil der Erfahrung. Obwohl Gastfreundschaft meist an Bedingungen geknüpft ist, regt der Workshop dazu an, die verschiedenen Rollen fließender zu sehen.

Viele Aufführungen für Kinder finden in Schulen statt, oft in der Turnhalle. Dabei stellt sich natürlich unweigerlich die Frage nach dem Eigentum am Raum. Wessen Raum ist es? Wer heißt hier wen willkommen? Wenn Künstler*innen einen Raum betreten, der normalerweise von Kindern bewohnt wird, werden sie mit einer Reihe von Regeln und Verhaltensweisen konfrontiert, die bereits außerhalb ihres künstlerischen Vorhabens existieren. Es kann daher spannend sein, sich selbst als Gast wahrzunehmen und darüber eine andere Verhaltensweise anzunehmen.

 

DER ORT ALS AUSGANGSPUNKT

Das Beispiel der Turnhalle lädt uns dazu ein, die Besonderheiten des Ortes, an dem die Aufführung stattfindet, zu berücksichtigen. Einige Teilnehmer*innen schlagen vor, den "Ort" als Ausgangspunkt zu nehmen. Dies ist der Fall bei Daniella Strasfogel, die mit der Erstellung von Partituren für Familien und Kinder auf Spielplätzen experimentierte. Ironischerweise entdeckte sie, dass Kinder auf einem Spielplatz oft einfach nur spielen wollten, anstatt zeitgenössischen Tanzpartituren zu folgen.

Jeder Ort – das Theater, die Turnhalle, der Spielplatz – bringt seine eigenen Regeln mit sich. Wir könnten diese als Bedingungen der Gastfreundschaft betrachten. Wenn wir einen Ort mit Kunst infiltrieren wollen, müssen wir entscheiden, wo wir mitspielen wollen: Welche Regeln sind notwendig, welche wollen wir brechen, und mit welchem Wissen kommen die Leute bereits. Je etablierter die vorhandenen Regeln sind, desto größer muss die performative Verschiebung sein, um neue Verhaltensweisen zuzulassen.

Je mehr ein Weg benutzt wird, desto mehr wird ein Weg benutzt.

- Sara Ahmed in What's the use?

Dieser Satz von Sara Ahmed betrachtet "Nutzung" als etwas, das von Natur aus recht konservative Verhaltensweisen mit sich bringen kann. Wenn wir den "Ort" als Ausgangspunkt nehmen, ist es interessant, darüber nachzudenken, wie ein bestimmter Ort genutzt wird, und welche Verhaltensweisen seine "Nutzung" hervorbringt. In Bezug auf Darstellende Künste finde ich Ahmeds Konzept des "Queer Use" sehr inspirierend:

"Queer uses – wenn Dinge für andere Zwecke verwendet werden als die, für die sie bestimmt waren – verweisen immer noch auf die Qualitäten der Dinge; queer uses können sich auf diese Qualitäten berufen und sie umso lebendiger machen."

Während die Qualitäten und ursprünglichen Funktionen des Ortes zu seinem Vorteil genutzt werden, stellt sich beim "queer use" auch die Frage, "wer" einen Ort / die Sache nutzen darf, und zwar ganz im Sinne von Zugang:

Queer Use könnte sich darauf beziehen, wie Dinge auf andere Weise genutzt werden können, als sie eigentlich gedacht waren, oder von anderen als denjenigen, für die sie gedacht waren."

 

EINE DISKUSSION ÜBER DIE ENTWICKLUNG EINER MULTI-SENSORISCHEN PERFORMANCE

Du kannst Dir eine Augenbinde aufsetzen und spüren, wie es ist, eine Stunde lang nichts zu sehen. Aber Du kannst nicht wissen, wie es ist, blind zu leben. Dafür brauchst du mich.

Silja Korn

Im Anschluss an den Workshop mündete der Nachmittag in eine Diskussion über multisensorische Performances mit Silja Korn (Pädagogin und Blindenberaterin), Daniella Strasfogel (Choreografin) und Susanne Tod (Access-Dramaturgin). Einer der Höhepunkte der Diskussion war für mich der Imperativ, nicht zu vermuten. Ich denke, dass dieser Imperativ auf alle Arten von Aufführungen angewendet werden kann: Die Zuschauenden als Expert*innen behandeln und so früh wie möglich in den Prozess einladen. Nicht von Vermutungen ausgehen, sondern Fragen stellen, experimentieren und Dinge gemeinsam herausfinden.

Eine weitere Schlüsselfrage war: Warum tust du das? Eine Antwort lautete, dass Access von Anfang an Teil des künstlerischen Konzepts sein sollte; es sollte nicht als zusätzliche Ebene betrachtet werden, sondern als etwas, das kreatives Potenzial freisetzen kann. Eine andere Perspektive war, dass Maßnahmen zur Barrierefreiheit zu einer normalen Ausgangsbasis werden sollten und dass die Ansprache eines allgemeinen Publikums auch die Ansprache von Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten beinhalten sollte.

 

ÜBERSETZUNG ALS ZUGANG – HETEROLINGUISMUS PRAKTIZIEREN

Wenn ich mir meine Notizen von diesem Tag ansehe, stelle ich fest, dass sie in Französisch, Englisch, Deutsch und Spanisch verfasst sind und auch Zeichen und Zeichnungen enthalten. Ob von einer Sprache in eine andere, von einem Sinn in einen anderen, von einem Kontext in einen anderen – ich betrachte Übersetzung als ein Mittel des Zugangs, und zwar auch als ein politisches.

Davon ausgehend möchte ich mich vom Konzept des Heterolinguismus wie es von Myriam Suchet, Professorin an der Sorbonne, vorgeschlagen wurde, inspirieren lassen:

"Im Gegensatz zum Bi-, Pluri- oder Multilinguismus, die jedes der vorhandenen Idiome unangetastet lassen und sie höchstens durch eine Vielfalt, die ihnen äußerlich bleibt, aufwerten, betont die Vorsilbe 'Hetero' die Differenz, die sie von innen heraus verwandelt".

Für sie geht es darum, die Vorstellung von "der Sprache" radikal zu verändern, anstatt verschiedene Sprachen einfach hinzuzufügen oder nebeneinander zu stellen, als wären sie stabile und homogene Einheiten, die eine Kontamination vermeiden könnten.

In Bezug auf den Fachaustausch finde ich es interessant, wie multisensorische Ansätze und das Vorhandensein verschiedener Sprachen – und wenn ich Sprache sage, meine ich das in einem erweiterten Sinne – zu Reibungen führen können, und wie diese Reibungen eine gegenseitige Durchdringung ermöglichen, wodurch wiederum neue hybride Sprachen entstehen. Diese wären das Eigentum keiner einzelnen Sprache, während sie möglicherweise von jeder einzelnen geschaffen werden. Ich neige dazu, diese Reibungen und diese Pluralität als etwas zu betrachten, von dem wir lernen können und das die Art und Weise, wie wir kommunizieren und an kreative Prozesse herangehen, grundlegend verändern kann.

 

4 KURZE AUFFORDERUNGEN (EINDRÜCKE)

NICHT VERMUTEN

Recherchieren, ausprobieren, frühzeitig einladen, fragen, testen und gemeinsam herausfinden

MACH DEIN PUBLIKUM ESSENZIELL

Mach sie essenziell, sie sind deine Expert*innen

VERFEINERE DEINE EINLADUNG

Informationen geben den Menschen Handlungsspielraum

SEI EIN*E COOLE*R GASTGEBER*IN

Lass der Party Raum, damit sie stattfinden kann

 

 

Das Theater o.N. veranstaltete in Zusammenarbeit mit dem tanzhaus nrw 2023 und 2024 insgesamt vier Austauschtreffen zu verschiedenen Aspekten von Öffnung, Access und Partizipation. Während es 2023 um intergenerationelle Formen im Tanz und partizipative Choreografien ging, mündeten die Workshops und Gespräche 2024 in das große Thema Gastgeber*innenschaft. Dieser Text ist eine gekürzte Version eines längeren Artikels, der vom Theater o.N. veröffentlicht wurde:

Die Grenzen verwischen (2023) und How do we invite (2024) stehen online zur Verfügung:

www.theater-on.de/veroeffentlichungen

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