Ausgabe November-Dezember 2025

Die Kunst des Ausreißens

Alina M. Saggerer
Alina forscht, schreibt und bewegt sich, ohne es voneinander zu trennen.

 

Eine Bewegung, ausgelöst durch einen Geruch. Sie weckt in dir eine Sehnsucht, (wo)anders zu sein. Es zieht dich zu einem Ort, den du dir bildlich gar nicht vorstellen kannst. 

Als ich fünf Jahre alt war, bin ich von zuhause ausgerissen. Nicht, weil es zuhause Streit gab oder etwas Bestimmtes meinen Unmut geweckt hätte. Ich wollte etwas erleben. Ich wollte das Band zwischen mir und Zuhause nicht vollständig trennen, nahm sogar meinen kleinen Bruder mit – ich wollte etwas umherwirbeln, um mich dann neu zu verbinden. Ich hatte keine Angst vor dem Draußen, nur vor der Reaktion meiner Eltern. Das Abenteuer war es mir wert.

In dem Kinderbuch Oh, wie schön ist Panama von Janosch finden Tiger und Bär eine Holzkiste und verlassen daraufhin ihr Haus, um „Panama“ zu suchen, wo es nach Bananen riecht, was ihnen ein besseres Leben verspricht. Sie bauen sich einen Wegweiser, der sie auf eine Reise im Kreis schickt, treffen andere Tiere und kommen am Ende wieder bei ihrem Haus an, welches sie nicht wiedererkennen. Mit auf dem Weg gesammelten Ideen möbeln sie es um und es wird zu ihrem Panama. Es geht um einen anderen Blick auf das Zuhause, geprägt von neuen Eindrücken. Eskapismus muss nicht Realitätsflucht bedeuten: Es kann ein Sprung hinein in das Becken der Realität sein, in Zeitlupe, kopfüber. 

Tanz kann eine ähnliche Wirkung haben wie die duftende Kiste: Die Vorstellung ist der Geruch, das Erleben der Performance das Ziehen in dir. Er kann eine Sehnsucht auslösen, ausbrechen oder ausreißen zu wollen aus der Welt, wie sie ist. Und doch bleibst du ihr verbunden. Tanz lässt eine andere Welt spürbar werden, ohne dass du sie betrittst. Dein Körper wird bewegt und resoniert zugleich mit der Bewegung. Eskapistische Strategien können eine neue Perspektive öffnen auf die Bedingtheit des eigenen Lebens. Daraus kann ein melancholischer, aber auch ein kritischer Bezug entstehen – nicht wie bei Tiger und Bär, die ihr altes Zuhause wiederentdecken und sich darin (wenn auch neu) einrichten. 

Die Tanzpraxis ist die Reise, auf die du dich begibst, auch der künstlerische Prozess wird oft journey genannt. Tanz trägt durch die Zeit und verschiebt dich im Raum – du bewegst dich in beidem und bleibst doch gebunden. Er bringt dich nicht an einen anderen Ort, er spannt dich auf zwischen dem bedingten Hier und dem unbedingten Dort, schafft Verbindung. Das beschädigte Leben bleibt unabgeschlossen; die Selbstentfremdung bleibt bestehen, doch in der Zuwendung zum Unbedingten lässt sich das Bedingte formen und vielleicht auch retten. 

Auch mein Bruder und ich landeten schließlich wieder zuhause. Ich erinnere mich nicht mehr an die Reaktion meiner Eltern, woran ich mich jedoch erinnere, ist das ambivalente Gefühl, zwar woanders zu sein und mich freier zu fühlen, aber mich wohl nicht vollständig lösen zu können. Es ist diese Spannung, die im Tanz erfahrbar wird: Ausreißen wird als Gedanke erlebbar, körperlich spürbar, es wird immer wieder in Raum und Zeit neu aufgerufen, doch bleibt unvollendet. Ausreißen mag implizieren, dass die Spannung der Verbindung von hier und dort aufgelöst würde – doch wird sie nicht auf bestimmte Art auch erhöht?

Folgt uns