edition Mai-Juni 2025

Zusammensein in Bewegung

Alice Chauchat. Foto: Yves Mettler

Die Arbeit der Choreografin Alice Chauchat dreht sich oft um Praktiken für kollektives Engagement. Zudem ist sie Teil der Kumi*13, das jüngste von 20 selbstorganisierten Hausprojekten in Berlin – auch „Wunder der Kumi*13“ genannt, weil von Mieter*innen gemeinschaftlich geführte Hausprojekte in der Innenstadtlage Berlins in den letzten Jahren unmöglich schienen. Wir treffen uns in der Kumi*13 an einem kalten Vormittag im März und sprechen über die Bedeutung kollektiver Prozesse in Alices künstlerischer Praxis, die Verbindung von Zusammensein und Verschiedensein und über die Verschränkung von Kunst, Wohnen und Leben.

Interview: Johanna Withelm

Inwiefern ist Deine künstlerische Praxis von kollektiven Prozessen geprägt?

Ich war in vielen Zusammenschlüssen involviert, in denen es um das Teilen von Ressourcen geht, z.B. Wissen, Raum, Sichtbarkeit, Zeit, gemeinsame Praxis. Ich habe in verschiedenen Kollaborationen gearbeitet, sehr oft mit multipler Autor*innenschaft. Mich haben auch schon immer strukturelle Formen des Zusammenseins interessiert und gleichzeitig aber auch die ethische Frage: Wie lebt man in diesen Strukturen? Es geht in kollektiven Prozessen immer um Personen mit eigenen Geschichten, Bedürfnissen, Interessen. Was meine choreografische Arbeit trägt, ist der Wunsch nach Zusammensein als eine Form der permanenten Bewegung.

Du forschst schon lange zu den Themen Zusammensein und Verschiedensein. Inwiefern ist beides miteinander verbunden?

Für mich ist das komplett verknüpft. Ich bin in einer Kleinfamilie aufgewachsen und habe mir als Kind immer ein gemeinschaftliches Zusammenleben gewünscht. Als ich mit 21 angefangen habe zu arbeiten, habe ich ein Kollektiv mitgegründet, das war eine tolle Zeit. Nach zwei Jahren habe ich gedacht, ich möchte gerne weiter mit Menschen zusammenarbeiten aber nicht mehr in einem Kollektiv (lacht). Das heißt, die Identifikation mit dem Kollektiv wollte ich nicht mehr in diesem hohen Ausmaß. Denn es geht auch um die Grenzen vom Einswerden. Um die Tatsache, dass wir von unserem Gegenüber nicht alles wissen können, die andere Person nie vollständig „greifen“ können. Ich begreife die Praxis des Zusammenkommens als eine Bewegung ohne Ziel – es geht letztlich immer um eine Annäherung. Die Tanzpartituren, die ich für Gruppen entwickle, trainieren genau das. Zusammensein ohne vollständig zusammen zu sein – neugierig bleiben, mit dem Wissen, dass man sich nie ganz sicher sein kann.

Seit ein paar Jahren entwickelst Du sogenannte Dance Gatherings. Wie kam es zu diesem Format?

Ich habe lange Zeit mit professionellen Tänzer*innen gearbeitet. Dann entstand mein Bedürfnis, „die Tür aufzumachen“ und diese Tanzpraxis mehr Teil des Lebens werden zu lassen, anstatt sie ausschließlich im abstrahierten Raum des Profi-Tanzstudios zu verorten. Die Tanztechnik kann immer viel unterstützen, aber sie ist keine Voraussetzung. Es hat sich nach und nach ergeben, dass auch Leute zu meinen Sessions gekommen sind, die nicht professionell tanzen. Ich habe verstanden, dass es sich um eine soziale Praxis handelt – es geht um das Zusammensein und Experimentieren. Ich hatte dann Freude an der Erkenntnis, einen Raum für Menschen, darunter auch Profis, zu schaffen, die „zum Spaß“ tanzen. So entstanden die Dance Gatherings. Es geht dabei nicht um vorgegebene Schritte, sondern um Prinzipien des gemeinsamen Tanzens. Ich übe im Vorfeld dann mit einer Gruppe verschiedene Tänze, die in Partituren grundiert werden und sie lernen, wie sie diese dann beim öffentlichen Dance Gathering weitergeben können.

Du bist seit 2019 außerdem Mitbegründerin der Kumi*13, ein selbstverwaltetes Wohnhaus mitten in Schöneberg. Wie funktioniert das Modell des Mietshäusersyndikats?

Es handelt sich um ein Netzwerk von selbstverwalteten Mietshäusern, die Kumi*13 ist eins von über 200 Häusern in Deutschland. Diese werden von den Bewohner*innen verwaltet und sind nicht an das Eigentum von bestimmten Personen geknüpft. Der Trick ist, dass das Haus niemandem gehört, es gehört sich sozusagen selbst (lacht). Das Mietshäusersyndikat ist ein Verein, aber für jedes Haus existiert eine GmbH, deren Gesellschafter*innen sowohl das Mietshäusersyndikat als auch der Hausverein (die Mieter*innen) sind. Die Finanzierung wird mit einem großen Bankkredit sowie durch eine Sammlung von kleineren Direktkrediten von Privatpersonen (diese müssen nicht selbst Bewohner*innen sein) gesichert, so braucht man kein eigenes Kapital.

Wie habt ihr es geschafft, in der aktuellen Wohnungsmarktsituation mitten in Berlin ein Haus zu finden und zu kaufen?

Ein befreundetes Paar von mir wohnte in diesem Haus. Ein Großteil der Wohnungen stand leer, da der damalige Hausbesitzer nicht sehr profitorientiert war (lacht). Als wir das Haus gekauft haben, stand es zu zwei Dritteln leer, das ist ein Grund, warum es überhaupt möglich war. Außerdem steht das Haus unter Denkmal- und Milieuschutz, dadurch ist es für viele Investor*innen unattraktiv geworden, weil es eben nicht interessant genug für eine renditeorientierte Investition war. Und so hat das tatsächlich geklappt. Sonst wird bei diesem Modell meistens ein bestehendes Mietshaus in ein selbstverwaltetes Haus umgewandelt, aber das ist nicht einfach, weil sich alle bestehenden Mieter*innen einig sein müssen. Oder eine Gruppe sucht sich ein leeres Haus, was in Berlin quasi unmöglich ist.

Wie gestaltet sich das gemeinsame Leben in der Kumi*13?

Es ist keine Kommune, aber auch kein normales Wohnhaus. Wir tragen das Projekt gemeinsam mit unserer Arbeit, vom Treppenhaus reinigen bis zum Müll sortieren, Gespräche mit der Bank führen, Direktkredite verwalten, Buchhaltung führen etc. – dafür arbeiten wir in kleinen AGs zusammen. Einmal im Monat werkeln wir zusammen und machen ein großes Plenum. Es gibt 15 Wohnungen im Haus, wir sind momentan 42 Bewohner*innen, davon 18 Kinder. Wir sind alle sehr verschieden in unseren Bedürfnissen und Neigungen. Es ist nicht immer einfach, Prinzipien des Zusammenlebens zu finden. Freundschaften entstehen, transformieren sich, es gibt natürlich auch Konflikte. Immer wieder gibt es Diskussionen zum Thema Arbeitseinsatz, denn der ist ungleich verteilt. Das liegt auch an verschiedenen Lebenssituationen, verschiedenen Kapazitäten usw., weswegen die Vorstellung von mathematischer Gleichheit des Arbeitseinsatzes im Grunde unmöglich ist. Und trotzdem ist es ein Thema, besonders für die, die sehr viel arbeiten. Die Kunst ist, darüber nicht bitter zu werden, sich auch nicht schuldig zu fühlen, und sich immer wieder mit Empathie zu begegnen. Das Thema Zusammensein und Verschiedensein begegnet mir in der Kumi*13 ähnlich wie in meiner künstlerischen Arbeit – es ist immer ein Aushandeln in Bewegung. Manchmal kommt z. B. ein Bedürfnis hoch wie: Komm, lass uns jede Woche gemeinsam Abendessen und einen Film schauen! Aber die Menschen haben ihr eigenes Leben. Es ist toll, zusammen zu sein, aber sobald es ein Muss wird, funktioniert es nicht mehr.

Wie hältst Du es mit der (Nicht-)Trennung von Kunst und Leben?

Ich denke meine Kunst nicht parallel zu meinem Privatleben, beides ist miteinander verschränkt. Als wir die Kumi*13 gegründet haben, war uns sehr wichtig, dass das Haus auch Teil des Kiezes ist, dass wir regelmäßige Aktivitäten mit der Nachbarschaft organisieren. Für mich ist das alles miteinander verbunden – das Leben in der Wohnung, im Haus, im Kiez, in der Stadt. Ich habe seit ein paar Jahren auch vermehrt im öffentlichen Raum gearbeitet, z. B. in Form von Dance Gatherings, aber auch mit z. B. 1:1-Performances, die ich in Form von Kiezspaziergängen entwickelt habe. Das sind poetische, spielerische Situationen, aber es sind eben auch konkrete Möglichkeiten, zusammen einen Ort zu bewohnen.
 


 

Offene Praxis mit Alice Chauchat im FELD Theater, Gleditschstr. 5, 10781 Berlin:

3.–5. Juni, 11–13 Uhr

11.–12. Juni, 11–13 Uhr

17.–19. Juni, 11–13 Uhr

1.–3. Juli, 11–13 Uhr

8.–10 Juli, 11–13 Uhr

15.–17. Juli, 11–13 Uhr

zugänglich für alle / kostenlos / ohne Anmeldung

 

Am 25. Juni 2025 findet ein Dance Gathering von Alice Chauchat im Rahmen des CURRENT Festival in Stuttgart statt.

 

www.together-ing.com

www.kumi13.org

Instagram: @dance.togetherings

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