edition November-Dezember 2024

"Is it Just Bad Taste?"

Staatsballett Berlin: "Schwanensee". Choreografie und Inszenierung von Patrice Bart, Musik von Peter I. Tschaikowsky. Foto: Carlos Quezada

Was hat Tanz mit Kitsch zu tun? Wieso sind Geschmacksfragen auch politische Fragen und wo liegen heute noch die Grenzen zwischen Kitsch und High Art? Im Interview mit tanzraumberlin-Redakteurin Johanna Withelm reflektiert die Tanzwissen-schaftlerin Prof. Dr. Mariama Diagne über die Verbindung von Tanz und Kitsch als Spiegel gesellschaftlicher und historischer Kontexte. Wir sprechen über Pathos, große Emotionen und Bad Taste, über ikonische Ballettszenen wie den sterbenden Schwan und über intersektionale Perspektiven auf Kitsch.

Interview: Johanna Withelm

Tanz und Kitsch – Was kommt Dir zuerst in den Sinn?

Mariama Diagne: Zunächst natürlich die kleinen Rüschchen, die an Balletttrikots für Kinder genäht sind und das große Tutu zitieren. Sie sind fragwürdig und funktionslos, da sie wie ein „Rest“ vom Tutu bei Kindern die Hüfte unter der noch nicht vorhandenen engen Taille markieren. Als Kind fand ich den Extrasaum total schick. Rüschchen versinnbildlichen, was als Kitsch erkannt wird: Verzierung aus Resten. Sind Rüschchen Kitsch? Ist Kitsch schlechte Kunst? Is it just bad taste? Ähnlichen Fragen ist die Autorin Susan Sontag 1966 in ihrem Essay Notes on ‘Camp’ (1966) nachgegangen. Als Camp wird eine Praxis des Überzeichnens und Übertreibens von Phänomenen in Kunst und (Pop)-Kultur verstanden, die Zitatcharakter besitzt. Ursprünge lassen sich jedoch bereits in der überbordenden Barockkultur des 18. Jahrhunderts finden. Im Text schien es Sontag um eine Sensibilität für Neben-schauplätze zu gehen. Er liest sich wie das Ausformulieren einer Suchbewegung nach Sontags eigenem Verhältnis zu Camp als Werkzeug zur Beschreibung historischer Figuren (Dandy), Lebensstile (Punk) und Kategorien (extraordinär). “Taste has no system and no proofs” (Sontag 2018, S. 3). Sontags Denkbewegungen geht ein Aufhorchen voraus, das mir nach dem Auseinandersetzen mit Deiner Frage in den Sinn gekommen ist. Sie stellt zu Beginn des Essays fest: “I am strongly drawn to Camp, and almost as strongly offended by it.” (Sontag 2018, S. 2). Diese Ambivalenz zwischen Ablehnung und Berührtsein bemerke ich auch im Nachdenken über Tanz und Kitsch. Welche Gewohnheiten eines Sich-Affizieren-Lassens treten hervor, wenn Erinnerungen an unnütze Details wie die Rüschchen ins Zentrum rücken?

Im klassischen Handlungsballett wird oft mit Pathos und großen Emotionen gearbeitet, der sterbende Schwan gilt als Symbol für das Sterben in Anmut. Aber auch im Modernen und Zeitgenössischen Tanz finden sich diese Elemente wieder. Wie würdest Du die Begriffe Pathos und Kitsch im historischen Tanz-Kontext definieren?

MD: Folgen wir Susan Sontags “random examples of items which are part of the canon of camp” (Sonntag 1966, S. 3), dann ist Schwanensee Camp. Im Text listet sie zu Beginn ihrer Gedanken auf, was ihrem Urteil zufolge zu Camp zählt. Das Ballettnarrativ um den todgeweihten Schwan steht auf Platz sieben. Im Zusammenhang mit Tanz scheint weniger das Sterben in Anmut ausschlaggebend zu sein, über Pathos und Kitsch nachzudenken, als vielmehr die Wahrnehmung von Zeitlichkeit: Wann zeigt sich im Laufe eines Stückes so etwas wie Anmut? Welche Stilmittel lösen für wen Echos von Anmut aus, etwa bei Matthew Bournes Schwanensee im Film Billy Elliot (2000) oder in der parodistischen Interpretation der Schwäne des aus männlichen Tänzern bestehenden Ensembles Les Ballets Trockadéro de Monte Carlo? Das Tanzsolo Der Sterbende Schwan (1905) visualisiert die musikalische Idee des Le Cygne (1886) von Camille Saint-Saëns. Tänzerinnen wie Anna Pawlowa, oder später Maja Plissezkaja, die noch im Alter von 70 Jahren auf der Bühne ihre ganz eigene Signatur in diese Choreografie einzuschreiben wusste, verkörpern die Anmut des Sterbens mit Pathos. Als Kitsch wäre eher das Stillstellen der Bewegung, die Verdinglichung eines vermeintlich genuin Weiblichen in Objekten für Erwachsene zu verstehen – z. B. in Keramikfiguren. Dass das Publikum im späten 19. Jahrhundert beim Sterbenden Schwan an Kitsch durch zu viel Pathos gedacht hat, würde ich bezweifeln. Die Sehgewohnheiten waren andere.

In welchem Zusammenhang stehen Geschlechterdarstellungen im Ballett mit dem Motiv des Kitsches oder des Melodramas, z. B. in Christian Spucks Inszenierung von Bovary am Staats-ballett Berlin?

MD: Im Ballett ist Kitsch oft an Hierarchie und Status geknüpft. Als Erstbesetzung für die Titelrolle in Bovary erarbeitete die Tänzerin Weronika Frodyma gemeinsam mit Christian Spuck und dem Team die Rolle der nach Aufmerksamkeit im Leben der High Society dürstenden Frauenfigur. Frodyma war zu dieser Zeit als Solotänzerin engagiert und ist inzwischen Erste Solistin. Ihr Kommentar während unseres Gesprächsabends Schönheit in der Reihe FORUM des Staatsballett Berlin ist mir hängengeblieben: In ihrer Laufbahn musste sie stets auf ein unversehrtes Äußeres achten. Schwitzende Haut und pulsierende Adern zählen nicht zum Kanon des Zeigbaren im Ballett. Frodyma erlangte erstmals mit der Interpretation der Bovary das ersehnte Selbstbewusstsein, sich auf der Bühne un-schön, im Sinne eines nicht ‘picture perfect’ gepudert seins, zeigen zu dürfen und sogar zu wollen. Ihr Gesicht ist in jenen Momenten der Inszenierung, in denen die Figur der Bovary verzweifelt mit sich und ihren Sehnsüchten ringt, von der Kamera erfasst und auf eine große Leinwand projiziert – für alle Zusehenden deutlich sichtbar. Closeups im Theater können heute aus der Zeit gefallen wirken. Aber: Als neuer Intendant für die eigene Neukreation der ersten Spielzeit eine Solistin mit der Titelrolle zu beauftragen, ihr zugleich ein ‘coming out of beauty’ zu ermöglichen und sie danach zur Ersten Solistin zu befördern, ist irgendwie Camp. Kontext verleiht Kitsch eine andere Dimension.

Gibt es eine intersektionale Perspektive auf Kitsch und Bühnenkunst?

MD: „Das ist ein weites Feld“ – Theodor Fontanes Schlussworte für den alten Vater Briest im Roman Effi Briest an dieser Stelle zu zitieren, ist so verführerisch, aber eigentlich Text-Kitsch. Dennoch: Was vor ein paar Jahren als kitschig und nebensächlich bezeichnet werden konnte, ist heute im Olymp der High Art mit hohem Verkaufspotenzial platziert. Kitsch unterliegt kulturellem Wandel. Wie sich dieser Wandel in der Rezeption und Reflexion von Kitsch und Kultur zeigt, diskutieren Autor*innen in dem 2023 von Max Ryynänen und Paco Barragán herausgegebenen Band The Changing Meaning of Kitsch. From Rejection to Acceptance. Was fehlt, ist eine intersektional historisch denkende Perspek-tive für Figuren im Schatten jener Beispiele, die Sontag aus dem europäischen Kanon kramt. Wenn Wolfgang Amadeus Mozart Camp ist (Sontag 2018, S. 11), Richard Wagner aber nicht (Sontag 2018, S. 7), dann frage ich mich, was Sontag wohl zu Joseph Bologne, Chevalier de Saint-Georges (1745 - 1799) geschrieben hätte, dem schwarzen Zeitgenossen Mozarts, der als Kind einer Sklavin aus Guadeloupe von seiner Mutter getrennt in adligen Kreisen aufwuchs, und als Sohn eines Sklavenhalters in Paris zum virtuosen Violinisten, Komponisten, Dirigenten, Athleten und Fechter wurde. Kann Saint-Georges Camp sein, nachdem er von Napoleon aus dem klassischen europäischen Kanon verdammt wurde? Was, wenn nicht die Opern des Zeitgenossen Christoph Willibald Gluck das Sprungbrett des Bühnentanzes der Barockzeit gewesen wären, sondern jene von Saint-Georges, dem größten Konkurrenten Glucks?

Wo siehst Du heute die Grenzen zwischen „ernsthafter Kunst“ und Kitsch im Tanz?

MD: Gartenzwerge stehen bei all jenen auf der Wiese oder in der Vitrine, die Gartenzwerge lieben, und auch bei manchen, die sie eigentlich verachten. Anything goes – und doch gibt es Grenzen. Welche Form der Identität vermittelt Mensch, wenn bestimmte Details aus Lebensstil, Kunst und sozialem Umfeld auf Zugehörigkeiten verweisen? Kitsch ist Material. In dem Hervorheben der Materialität von Kitschkram, also Dingen, die kitschig sind, weil sie letztlich Dinge sind, die beim Kramen in einer Kiste beiläufig in die Hände fallen, tritt ein Element des Ernstes vom Vergehen der Zeit hervor, der dem Kitsch wie ein Rest anhaftet. Die rote Farbe, die vom Gartenzwerg irgendwann abblättert, das geflickte Loch im Rüschchenrock, sind Reste dieser Ernsthaftigkeit von Kitsch. Eine andere Grenze liegt für mich im Kontext, in dem Kitsch zugunsten einer politischen Aussage thematisiert oder instrumentalisiert wird. Wann ist Kitsch angemessen? Welchen historischen Abstand braucht es, um Kitsch nicht als degradierend zu empfinden? Es sind die von Macht und Gewalt durchzogenen The-men, Kontexte, Situationen – davon politisch aktuell zahllose – die Kitsch nicht greifen kann; für die Kitsch keine Alternative ist, nicht einmal temporär. Kitsch kann weder Material noch Medium, geschweige denn ein Denkangebot sein. Dafür reicht Kitsch allein als bloßer Rüschenkranz ohne Rest, ohne Farbsplitter, ohne Riss, ohne Naht, nicht aus.

 

Literatur:

● Barragán, Paco; Ryynänen, Max (Hg.) (2023): The Changing Meaning of Kitsch. From Rejection to Acceptance, Palgrave / MacMillan (Springer Verlag).

● Sontag, Susan (2018): Notes on ‘Camp’ (1966), Penguin Modern, London.

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