edition May-June 2022

In ständiger Bewegung

Die Luftartistin Rosiris Garrido wollte neue Wege gehen – und hat eine Serie von Soli mit Künstler*innen anderer Disziplinen entwickelt, unter anderem mit zwei (Luft-)Tänzern.

Luftakrobatik meets Aerial Dance: Rosiris Garrido "What can I offer you today?". © Doreen Reichenbach

Text: Rosiris Garrido
Luftbildkünstlerin

Als ich ein Kind war, wollte ich Ballerina werden. Dann kam alles ein bisschen anders. Wir hatten nicht so viel Geld, ich hatte fünf Geschwister. Dann kam die Idee, dass die Nationale Zirkusschule in Rio de Janeiro ein Ort ist, an dem ich lernen könnte. Wenn man hier aufgenommen wird, kostet die Ausbildung nichts. Und hier ging es schließlich auch um eine Kombination aus Bewegung und Kunst, die mich damals schon faszinierte. Ich habe die Aufnahmeprüfung bestanden, die verschiedenen Disziplinen anbietet – und als ich auf die Luftakrobatik stieß, war klar: Das ist mein Element. Ich wollte hoch fliegen! Ting, Lira – der Ring, war mein Werkzeug, neben Trapez, Tüchern und Seilen. Ich wollte den Nervenkitzel des Fliegens erleben. Ich wollte das Risiko.    

Jenseits der Lyrik des klassischen Zirkus
Nach der Schule folgte ein Engagement beim Cirque du Soleil, eine Tournee um die Welt, das Zirkusleben. Ich landete in Deutschland – und blieb hier. Ich hatte die Möglichkeit, mich als Darstellerin auszuprobieren und in größeren Teams mit Choreograf*innen und Tänzer*innen eine ganz neue Bühnenerfahrung zu machen. Es wurde mir immer klarer, dass die Lyrik des klassischen Zirkus mich nicht mehr ernähren konnte. Ich wollte nicht mehr lesen: Rosiris Garrido schwebt scheinbar über dem Zuschauer...

Die Zeit ist vergangen. Ich bin jetzt 46 Jahre alt und blicke auf meinen Weg zurück und frage mich immer öfter: Wie will ich – wie kann ich – mit meiner Kunst alt werden? In meiner Arbeit als Künstlerin habe ich gelernt, wie lohnend es sein kann, neue Wege zu gehen. Meinen Körper wieder neu zu definieren. Ihn Dinge tun lassen, die ihm (noch) fremd sind. Was kann ich ihm also heute anbieten?

Ich wollte mich den Begegnungen mit Menschen aussetzen. Von anderen Künstler*innen lernen. Mich verletzlich zu zeigen. Etwas wagen. Um etwas zu versuchen. Ich wollte auch dem Publikum anders begegnen. Ich wollte jede einzelne Person sehen. Den Blickkontakt nicht nur zulassen, sondern ihn auch suchen. Ich wollte mit Menschen ins Gespräch kommen.     

Lebendige Objekte und die eigene Stimme
Die Zusammenarbeit mit zehn Künstler*innen aus verschiedenen Generationen und Kunstformen ist der Kern meiner Arbeit: „What can I offer you today?“ Ich habe zum Beispiel mit einem bildenden Künstler zusammengearbeitet, der eine Skulptur entwickelt hat, mit der ich in einem der Soli Kontakt aufnehme. Es sind zwei große weiße Luftballons. Ein Objekt, das lebendig ist. Es ist voller Luft. Und ich treffe in der Performance auf das Element, das mich schon so lange begleitet. Wie ein menschliches Wesen verändert es sich ständig, es ist in Bewegung. Es hat ein Eigenleben. Und es ist wunderbar, im Tanz mit ihm in Kontakt zu kommen.

Nach der Premiere schrieb ein Zuschauer drei Seiten darüber, was er in der Aufführung gesehen hatte: „Was ich gesehen habe, war nur die Spitze des Eisbergs", schrieb er. Eigentlich ist das, was man sieht, immer nur die Spitze des Eisbergs, dachte ich.

Besonders irritierend, aber auch eindringlich war für mich die Begegnung mit einer Gesangskünstlerin. Durch die Arbeit mit ihr habe ich meine eigene Stimme gefunden. Das hat mich absolut herausgefordert. Bis jetzt war meine Stimme in meiner Arbeit immer stumm. Es dauerte vier Tage, es war schmerzhaft, ich war erschöpft. Diese Arbeit war das genaue Gegenteil meiner bisherigen Arbeit. Bis jetzt war Leichtigkeit mein Credo. Jetzt kann das Publikum mich hören – es hört mich (!) stöhnen und ächzen. Aus dieser Begegnung ging eine ganz neue Kraft, Ehrlichkeit und Intimität in meiner Arbeit hervor.

Flirt zwischen den Stilen
Ich habe auch mit Tänzern gearbeitet. Ein Lufttänzer, ein zeitgenössischer Tänzer. Auf diese Weise knüpfe ich an meinen Kindheitstraum an – und auch hier verknüpfe ich meine Luftbildkunst mit neuen Ideen in der Begegnung. Aerial Dance hat viele Elemente, die ich auch als Luftakrobatin kenne. Wir haben den gleichen Rhythmus, aber nicht das gleiche Tempo. Die Technik des Aerial Dance bietet mir die Möglichkeit, mich von der Luftakrobatik zu befreien und trotzdem in der Luft zu bleiben.

Der Tanz, der auf diese Weise entsteht, ist wie ein Flirt zwischen den Stilen. Aber auch der zeitgenössische Tanz ist für meinen Körper eine Verkehrung der Welt. Ich berühre nun auf der Bühne den Boden. Für die meisten mag das normal sein. Für mich steht die Welt sozusagen Kopf.

Die insgesamt sechs Performances, die ich jetzt wieder zeige, sind für mich mehr Entwicklungen denn je. Sie sind Neuland. Sie sind Hybride. Sie sind ein Geschenk für mich, weil ich das, was schon da war, weiter entwickeln konnte. Sie sind ein Experiment, denn es ist nie von vornherein klar, wohin genau die Reise geht. Für mich sind sie die Verwirklichung eines Kindheitstraums und eine Idee für das Älterwerden zugleich.

Rosiris Garrido mit Rodrigo Garcia Alves, Chaim Gebber, Carla Guagliardi, Yuko Matsuyama, Abel Navarro, Valerie Renay
What can I offer you today?
7.-8., 14.-15., 21-22., 28.-29. Mai und 4.-5., 11.-12. Juni 2022
Studio Rosiris Garrido, Windscheidstraße 40, 10627 Berlin
www.rosirisgarrido.com

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