Liebe Leser*innen,
ich erinnere mich noch genau an den 30. Juni 1996, ich war 13 Jahre alt und habe zu Hause auf unserem kleinen Fernseher mit meinem Vater das Fußball-EM-Finale zwischen Deutschland und Tschechien gesehen. Damals galt noch die Regel des Golden Goal (das Team, das in der Verlängerung das erste Tor schießt, gewinnt das Spiel) und Oliver Bierhoff hat fünf Minuten nach Beginn der Verlängerung das Tor geschossen. Mein Vater stand sehr nah vorm Fernseher, riss die Hände in die Luft und jubelte, mit Brötchen und Boulette in der Hand. Ich war fasziniert von der Stadionatmosphäre, die ich meinte durch den Fernseher fühlen zu können und habe zum ersten Mal die kollektive Euphorie gespürt, die von Sport ausgehen kann. Bis heute schaue ich gerne Fußball, manchmal immer noch mit meinem Vater, auch wenn ich mich sonst kaum für Ballsport interessiert habe und selbst immer nur tanzen wollte.
Für dieses Heft mache ich mich auf die Suche nach Parallelen zwischen Tanz und Fußball: Mit der Choreografin und Performerin Milla Koistinen und dem Taktiktrainer der Juniorenabteilung von Hertha BSC Thomas Broich (seit 1. Juli 2024 Leiter der Nachwuchsabteilung von Borussia Dortmund) spreche ich über Ähnlichkeiten in Bezug auf Raumkomposition und Improvisation, über die Arbeit mit Chaos und Struktur, über Talent, Druck und Scheitern und über Gefühle von Zugehörigkeit und kollektiver Freude. Welches theatrale Motiv sich außerdem im Fußballstadion und insbesondere auf den Fantribünen zeigt, darüber schreibt der Journalist und Autor Patric Seibel in seinem Essay Bewegte Bilder – Zur Choreografie des Fußballs. Darin untersucht er die choreografischen Elemente von Fankurven und kollektiv bewegten Körperornamenten der Menschenmassen auf den Rängen, und berichtet von der Kraft der Stadionbilder und von einer zweiten Welt, die sich die Fans mit ihren Inszenierungen selbst erschaffen. Was Tanz und Performance mit Kampfsport zu tun haben, erfahren wir von Choreografin Agata Siniarska in ihrem Text The Body in Full Readiness. A Brazilian Jiu-Jitsu Tournament as a Stage Situation. Seit gut einem Jahr lernt sie die Kampfsportart Brazilian Jiu-Jitsu, trainiert intensiv und nimmt an Kämpfen teil. Aus persönlicher Perspektive schreibt sie über die Parallelen zwischen choreografischer Bühnenpraxis und Kampfkunst und über die Magie des performativen Live-Moments. Außerdem im Heft: Bodyscopes von Künstlerin und Astrologin Nicola van Straaten mit leisen, lauten und bewegenden Impulsen für alle Sternzeichen im Juli und August.
Der Sommer ist da, die zwei schönsten Monate in Berlin brechen an. Und trotz Spielzeitpause einiger Häuser gibt es neben Fußball auch jede Menge Tanz zu sehen. Natürlich beim Internationalen Festival Tanz im August vom 15. bis 31. August am HAU und vielen weiteren Orten, beim Submerge Festival v.6 in den Lake Studios vom 29. Juli bis 31. August oder bei einer der vielen weiteren Premieren und Wiederaufnahmen. Die Übersicht aller Aufführungen findet Ihr im Tanzkalender in der Heftmitte plus sechs Kurzvorschauen auf Premieren und Festivals.
Ich wünsche Euch einen tollen Sommer in Berlin oder wo auch immer Ihr seid, viel Freude beim Fußball Gucken, beim Lesen und Rumdösen – am See, im Freibad, auf dem Balkon und natürlich im Theater oder einer der vielen Bühnen in der Stadt.
Viel Spaß beim Lesen,
Johanna Withelm