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Corona | Koalition der Freien Szene

Offener Brief vom 25.03.2020 an den Senator für Kultur und Europa

Die Koalition der Freien Szene wendet sich mit einem Offenen Brief vom 25.03.2020 an den Senator für Kultur und Europa Dr. Klaus Lederer, um auf die bestehenden Problematiken von Kunst- und Kulturschaffenden in Zeiten der Corona-Pandemie deutlich aufmerksam zu machen.

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Sehr geehrter Herr Senator Dr. Lederer,

wir begrüßen den schnellen Beschluss des Senats zu finanziellen Zuschüssen für Solo-Selbstständige und Kleinunternehmen und hoffen auf baldige Informationen zur konkreten Ausgestaltung der „Soforthilfe II“. Trotz der in diesen Tagen von Bund und Ländern wiederholt geäußerten Anerkennung freier Kunst- und Kulturschaffender und -orte zeichnen sich in der Freien Szene weiterhin Probleme ab.

Einige betreffen die Bundesebene, bei denen wir um den Einsatz des Landes Berlin bitten. Grundsätzlich halten wir es für problematisch, dass freie Kunst- und Kulturschaffende mit Kleinunternehmen/Solo- Selbstständigen gleichgesetzt werden, da ihre Kunst und Kultur nicht profitorientiert ist. Nochmals möchten wir anregen, das Fachwissen der Freien Szene bei der Ausgestaltung der Maßnahmen zu integrieren.

1. SOFORTHILFE II: BEANTRAGUNG, NACHWEISE, BERECHTIGUNG
Damit Akteur*innen der Freien Szene die „Soforthilfe II“ schnell in Anspruch nehmen können, müssen die Zuschüsse unbürokratisch beantragt werden können. Der Nachweis der KSK-Mitgliedschaft, eines Hochschulabschlusses oder der professionellen künstlerischen/kulturellen Tätigkeit muss reichen; die Darstellung von Einkommensausfällen muss formlos möglich sein. Einzelnachweise sind im Kunstbetrieb oft nicht möglich.

Es herrscht weiterhin Unklarheit darüber, wie die Hilfsmaßnahmen von Bund und Länder ineinandergreifen, in welcher Reihenfolge bestehende staatliche Hilfen (v. a. ALG II) und Soforthilfemaßnahmen beantragt werden müssen und ob sie sich gegenseitig ausschließen oder ergänzen. Die Angaben von Bund, Senat und IBB sind bisher uneindeutig – detaillierte Informationen fehlen. Die Anspruchsberechtigung von Nicht-EUAusländer* innen bzw. erst kurzfristig in Berlin lebenden internationalen Künstler*innen ist noch ungeklärt.

2. FORTLAUFENDE UND KOMMENDE FÖRDERUNGEN
Auf Landesebene sorgen sich Akteur*innen der Freien Szene über die Bearbeitung von Ausschreibungen und geplanten Jurysitzungen. Jurysitzungen müssen digital durchgeführt werden, falls diese durch behördliche Verordnungen nicht wie gewohnt stattfinden können. Keine der bereits bestehenden oder geplanten Förderprogramme bzw. -verträge dürfen in Nothilfefonds/Soforthilfemaßnahmen umgewidmet werden.

Fördergelder müssen unbedingt in festgelegter Höhe ausgezahlt werden, nur so ist der notwendige zeitliche Vorlauf samt abzuschließender Mitwirkendenverträge sichergestellt. Die persönliche Haftung der Förderempfänger*innen muss in dieser Ausnahmesituation überdacht werden. Künftige Fördermittel auf Landes- und Bundesebene müssen gesichert werden, damit Projekte in der Neukonzeption nicht wegfallen.

3. MIETSCHUTZ UND BESTANDSSCHUTZ
Durch die absehbaren langfristigen Einnahmeneinbrüche bei Künstler*innen aller Sparten – nicht nur aus künstlerischer Arbeit, sondern auch aus Nebenberufen – sehen wir die Gefahr des Verlusts von Spielstätten, Projekträumen und anderen Präsentationsorten und besonders auch von Produktionsräumen (Atelier-, Probe-, Arbeitsräume). Zwar sind Kündigungen bis Ende September ausgesetzt, doch die langfristige Doppelfinanzierung von Wohn- und Arbeitsraum durch Stundung der Miete wird vielen kaum möglich sein.

Die Soforthilfemaßnahmen reichen lediglich für eine kurzfristige Überbrückung der laufenden Kosten. Die Lasten der notwendigen staatlich verordneten Schließungen aber sollten solidarisch auf alle Schultern verteilt werden. Profitorientierte Vermieter*innen müssen nun einen Beitrag leisten. Die vom Senat gestützte Aushandlung eines Mietmoratiums oder einer Mietminderung von bedrohten Kunst- und Kulturorten wäre daher sinnvoll.

4. ARBEITSLOSENGELD II, RENTENVERSICHERUNG UND AUFENTHALT
Aktuell will der Senat die „Soforthilfe“ an die Bedingung knüpfen, Grundsicherung (ALG II) zu beantragen. Das ist widersinnig – ein Zwang zur Beantragung von Fürsorgeleistungen hat mit dem Ziel, berufliche Existenzen zu sichern, nichts zu tun. Insbesondere Menschen mit Kindern bedürfen jetzt unbedingt einer zusätzliche Hilfe zu den angekündigten Beträgen, um in den nächsten Monaten irgendwie künstlerisch tätig sein zu können und nicht nur am Existenzminimum in Abhängigkeit vom Staat zu leben. Regulär haben ALG II-Empfänger kein Anrecht auf Kinderzuschlag – niemand hat hier mehr einen Überblick.

Trotz der Sonderregelung der KSK zum Mindesteinkommen und zur Mitgliedschaft für dieses Jahr ist noch unklar, wie der Bezug von ALG II die Höhe der Rentenansprüche beeinträchtigt. Auch bei Künstler*innen, die nicht in der KSK sind, weil sie mit ihrer künstlerischen Tätigkeit zu wenig verdienen oder ihr Einkommen vorwiegend nebenberuflich erwirtschaften, ist unklar, wie der Bezug von ALG II sich auf ihre Rentenansprüche aus einer freiwilligen privaten Versicherung auswirkt. Die Beantragung von ALG II kann zudem negative Auswirkungen für den Aufenthaltstitel in Berlin wohnender Nicht-EU-Ausländer*innen haben. Für die Kunst- und Kulturschaffenden, die erst jüngst nach Berlin gezogen und noch nicht hier gemeldet sind, hat die Situation gravierende Konsequenzen. Eine eindeutige Klärung und entsprechende Handreichung in Absprache mit den zuständigen Behörden sind hier unbedingt erforderlich.

5. DIGITALITÄT UND FREIE SZENE
Wir begrüßen, dass im Bereich der digitalen Teilhabe mit berlinalive.de nun endlich ein sichtbarer Fortschritt erreicht wurde. Von einer Finanzierung der Projekte und Akteur*innen der Freien Szene durch Streaming- Formate sind wir allerdings weit entfernt. Die digitalen Inhalte werden kostenlos angeboten, es gibt lediglich einen Spendenbutton. Auch gibt es keine geförderte Infrastruktur zur Digitalisierung der eigenen Inhalte.

Es müssen Lösungen gefunden werden, mit denen die Freie Szene Berlins dauerhaft gegen die Corona-Virus- Wellen und andere Krisen gesichert ist. Daher wäre es jetzt strategisch sinnvoll, wenn der Senat in enger Absprache mit der Freien Szene die langfristige Förderung von Kunst/Kultur im Netz strukturiert. Kulturproduzent*innen müssen von etwas leben, wenn im Netz alle Kultur kostenlos „konsumieren“ wollen. Kurzfristig wäre eine vom Senat geförderte Beratungsstelle zu Möglichkeiten von Kunst im Netz hilfreich.

6. BEDINGUNGSLOSES GRUNDEINKOMMEN UND EINE STADT FÜR ALLE
Die COVID-19-Pandemie zeigt, dass eine krisenresiliente und stabile Gesellschaft grundsätzliche neue Arbeits-und Lebensverhältnissen erfordert. Die Einschränkungen der Pandemie könnten laut RKI bis zu zwei Jahre dauern, die wirtschaftlichen Auswirkungen werden mindestens so lange spürbar sein. COVID-19 zeigt, dass der gleichberechtigte Zugang zu Grundgütern und zur materiellen wie immateriellen Grundversorgung nicht möglich ist in einem System, das prekäre Arbeits- und Eigentumsverhältnisse erzeugt.

Wir regen daher an, die aktuelle Herausforderung als Chance wahrzunehmen und anstelle von kurzfristigen Patchwork-Lösungen, das bedingungslose Grundeinkommen für alle einzuführen. Außerdem muss Berlin weiter gegen den profitorientierten Umgang mit Wohn-, Gewerbe- und Freiraum in der Stadt arbeiten. Nur mit langfristigen strukturellen Änderungen überstehen wir die Pandemie gemeinsam, ohne dass Menschen ihre Existenzgrundlage verlieren. Das gilt nicht nur für die Freie Szene, sondern für uns alle in dieser Stadt!

Der Sprecher*innen-Kreis der Koalition der Freien Szene

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Den vollständigen Brief gibt es zum Download hier.

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